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# taz.de -- „Die Morgenthau-Legende“
> Im Schatten des Holocaust versuchte der amerikanische Finanzminister
> Morgenthau auf die Verbrechen der Nazis zu reagieren: Bernd Greiner
> schrieb die Geschichte des Plans  ■ Von Michael Marek
„Müßte man das 20. Jahrhundert auf einen Nenner bringen, dann wäre es nicht
verkehrt zu sagen: Es war ein Jahrhundert der Kriege und der Vernichtung
und eine Zeit, in der die Henker – ob Folterknecht oder Schreibtischtäter –
meist ungeschoren davonkamen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen scheiterten
die Versuche, mit politischen oder strafrechtlichen Mitteln auf
Kriegsverbrechen, Völkermord und, wie es in der Nürnberger Anklageschrift
hieß, ,crimes against humanity‘ zu reagieren.“
Mit diesen Sätzen beginnt der Hamburger Politologe Bernd Greiner seine
fulminante Untersuchung über den sogenannten Morgenthau-Plan. Und Greiner
läßt keinen Zweifel, daß er dessen Initiator, den amerikanischen
Finanzminister Henry Morgenthau jun., einer grundlegend neuen Bewertung
unterzieht: Radikaldemokrat, Wirtschaftsreformer und Antifaschist, der mit
den Mitteln der Diplomatie und der Justiz den Nazi-Verbrechen begegnen
wollte – so lautet Greiners Charakterisierung des umstrittenen Politikers.
Noch immer gehört es zu den erstaunlichen Tatsachen der
Nachkriegsgeschichtsschreibung, daß sich am grotesk verzerrten Bild Henry
Morgenthaus nur wenig geändert hat. Haß und Rache von alttestamentarischem
Charakter sprächen aus diesem Plan, tönte bereits im September 1944
Propagandaminister Goebbels – kurz nach der Unterzeichnung des
Morgenthau-Plans durch US-Präsident Roosevelt. Eine erfolgreiche Kampagne,
denn bis heute gilt Morgenthau in der Bundesrepublik als Unperson und als
jüdischer Racheengel. Ende der siebziger Jahre bilanzierte der Historiker
Friedrich Jerchow, daß Morgenthaus Plan einer deutschen
Nachkriegsgesellschaft der Barbarei nationalsozialistischer Verbrechen kaum
nachgestanden hätte: Deutschland, ein Land auf der Stufe eines
Agrarstaates, ohne eigene Industrie und ohne Militär – dies habe Morgenthau
gewollt.
Mit solchen Legenden möchte Greiner aufräumen. Nach drei Jahren Forschung
kommt der Mitarbeiter des „Hamburger Instituts für Sozialforschung“ zu
einem anderen Morgenthau-Bild – und zwar auf Grundlage bislang
unveröffentlichter Quellen. Als erster deutscher Sozialwissenschaftler las
er Morgenthaus Handakten und seine über 900 Bände umfassenden Tagebücher,
einschließlich zahlreicher Untersuchungen der amerikanischen Regierung.
Greiners These: Für Morgenthaus Handeln war das Wissen um die Ermordung der
europäischen Juden entscheidend. „Ohne Rücksicht auf die eigene Person“, …
Greiner, „unter Absehung aller karrierepolitischen Interessen wollte er die
Verbrechen in den Vernichtungslagern an die Öffentlichkeit bringen.“
Henry Morgenthau wurde 1891 in New York City geboren und stammte aus einer
wohlhabenden deutsch-jüdischen Familie. Sein Vater war Bankier, später
aktiv in der Demokratischen Partei. Morgenthau studierte Landwirtschaft,
war Doktor der hebräischen Literatur und der humanistischen Wissenschaften.
Politische Ambitionen hatte er zunächst keine, bis ihn Präsident Roosevelt
1934 zum Finanzminister berief.
An der Wallstreet galt Morgenthau zunächst keineswegs als ausgewiesener
Finanzexperte. Er brachte andere Fähigkeiten mit. Sein Vater, Henry
Morgenthau senior, war im Ersten Weltkrieg US- Botschafter in der Türkei
gewesen und wurde Augenzeuge des Völkermords an den Armeniern. Er hatte
versucht, die Weltöffentlichkeit auf diesen Genozid aufmerksam zu machen
und wollte die Schuldigen zur Verantwortung ziehen. Den jungen Morgenthau
prägte dies tief: die Erfahrung des Massenmords, die politische
Intervention seines Vaters und schließlich, daß trotz dieser Bemühungen die
Täter straffrei davonkamen. Blickt man auf die politische Biographie des
jungen Morgenthau zurück, so Greiner, dann war das ein Teil seiner
politischen Sozialisation.
Als Finanzminister kontrollierte Morgenthau die amerikanischen
Ausfuhrgenehmigungen. Seine Kenntnisse über die deutsch- amerikanischen
Geschäftsbeziehungen waren, wie Greiner nachweist, sehr detailliert und
erlaubten ihm erste Einblicke in das Innenleben des NS-Staates. Auch kannte
er sich in der Investitionspolitik und den rüstungspolitischen Interessen
großer deutscher Konzerne gut aus. Bereits Mitte der dreißiger Jahre
erkannte Morgenthau das Dritte Reich als eine Gefährdung des Weltfriedens.
Morgenthau war der Auffassung, Hitlers Expansionspolitik stünde in der
Kontinuität eines aggressiven deutschen Nationalcharakters – mit dem
Ergebnis, zwei Weltkriege ausgelöst zu haben. Die symbiotische Verzahnung
von NS-Partei und Wirtschaftselite war grundlegend für sein Bild vom
Nationalsozialismus. Der Morgenthau-Plan selbst sollte dies in seinen
Kernforderungen berücksichtigen. In der Tat sah das Memorandum
weitreichende Regelungen für die Nachkriegszeit vor: die Aufteilung
Deutschlands in einen Nord- und einen Südstaat, beide autonom und auf
föderativer Grundlage. Dazu kamen erhebliche Gebietsabtretungen: im Westen
an Frankreich und im Osten an Polen und die Sowjetunion. Mit den Russen war
darüber hinaus eine enge Kooperation geplant, um so einen raschen Rückzug
der amerikanischen Truppen aus Europa zu erreichen. Außerdem sollten
deutsche Zwangsarbeiter im Ausland Kriegsschäden beseitigen. Schließlich
forderte Morgenthau eine Bodenreform zugunsten kleinerer und mittlerer
landwirtschaftlicher Betriebe. Zentral aber blieb die völlige Entwaffnung
der Streitkräfte, um Deutschland als potentiellen Aggressor ein für allemal
unschädlich zu machen.
Greiner weist nach, daß sich Morgenthau in Fragen der Entnazifizierung
gegen die Outlaw- Theorie stellte, nach der nur die kriminellen Eliten,
also die Führer und Funktionäre des NS-Regimes und der NSDAP, Verantwortung
für die Verbrechen trugen. Morgenthau hingegen sah die Schuldigen in den
Reihen der Militärs, in der Bürokratie, der Nazi-Partei und in der
Industrie, nicht zuletzt in der Zwangsgemeinschaft der Halbverstrickten,
Mitläufer und Angepaßten.
Seine Vorschläge zielten daher auf eine Politik der vier großen „D“, und
die hießen: Demilitarisierung und Denazifizierung, Dekartellisierung und
Demokratisierung. „Würde dieses Programm nicht radikal durchgeführt, hätte
dies unabsehbare Folgen. Diese Burschen sind ja so schlau und solche
Teufel. Bevor man sich's versieht, haben sie wieder ein Heer, das
marschiert“, schrieb Morgenthau in sein Tagebuch und dann: „Die Lösung
scheint schrecklich, unmenschlich grausam zu sein. Wir haben den Krieg
nicht gewollt. Wir haben nicht Millionen Menschen in die Gaskammern
gejagt.“
Die Ermordung der europäischen Juden spielte in Morgenthaus Denken die
zentrale Rolle. Sein Deutschlandplan erwuchs aus dem Wissen um den
Holocaust. Bereits Ende 1942 besaß Morgenthau zuverlässige Berichte über
die Todesfabriken in Auschwitz und anderswo. Insofern komme Morgenthaus
Plan einer „politischen Notbremse“ gleich, so Greiner. Morgenthau wollte
damit seine politischen Gegner in der Regierung Roosevelt, die zu
weitgehenden Konzessionen gegenüber Nazi- Deutschlang bereit waren, aus der
Reserve locken – wohl wissend, daß seine Neuordnungspläne für
Nachkriegsdeutschland bei ihnen auf massiven Widerstand stoßen mußten:
„Jetzt ist noch nicht die Zeit der Kompromisse“, schärfte er seinen
Mitarbeitern ein und gab die Losung aus: „Let someone else water it down“,
was soviel heißen sollte wie: „Jemand anderes wird zu einem späteren
Zeitpunkt diese Kompromisse aushandeln. Wir sind im Augenblick nur dazu da,
auf das Problem hinzuweisen.“
Morgenthaus Gegner in der US- Regierung machten selbst vor antisemitischen
Denunziationen nicht halt und beschimpften ihn als „amerikanischen
Himmler“. Der öffentliche Druck auf den US-Präsidenten wuchs, Roosevelt
fürchtete um seine Wiederwahl bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen
und zog seine Unterschrift zurück. So kam der Morgenthau- Plan zu Fall –
ein Memorandum, bei dem es sich laut Greiner zunächst nur um vorläufige
Überlegungen handelte, bestimmt zur Diskussion im kleinen Kreis, um alle
Verantwortlichen des Nazi- Regimes zur Rechenschaft zu ziehen.
In der Bundesrepublik ist dieser Kontext kaum beachtet worden. Kein Wort
davon, daß Morgenthaus Denken mit Auschwitz zusammenhing, resümiert Bernd
Greiner: „Gehen Sie in eine x-beliebige Schule, schlagen Sie Schulbücher
aus den sechziger, siebziger und achtziger Jahren auf, sie werden immer
dieses Thema finden: Jude, Racheengel, Tod über Deutschland.“
Bis heute gibt es lediglich eine einzige größere Morgenthau-Untersuchung –
eine 390-Seiten-Monographie mit dem eindeutigen Titel „Tod über
Deutschland“ von Kurt Keppler. Der Rest ist Schweigen, wie Greiner
abschließend feststellt. Dagegen steht die Erinnerung an einen engagierten
Politiker, dessen Erkenntnis schlicht und einfach lautete: Völkermord und
Aggressionskrieg dürfen nicht ungesühnt bleiben.
Darüber wollte Morgenthau einen politischen Streit vom Zaun brechen, darauf
hatte er all sein intellektuelles Bemühen gerichtet: Es gibt keine
Normalität im Schatten der Vernichtung. Das war Morgenthaus Botschaft an
die Tätergeneration. Bernd Greiners Verdienst ist es, diese Geschichte
rekonstruiert zu haben.
Bernd Greiner: „Die Morgenthau- Legende. Zur Geschichte eines umstrittenen
Plans“. Hamburger Edition, Hamburg 1995, 441 Seiten, 48 DM
23 May 1995
## AUTOREN
Michael Marek
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