# taz.de -- Jesse James sah ihn fighten | |
> Vor 115 Jahren wurde Paddy Ryan Boxweltmeister ■ Von Ralf Sotscheck | |
Jer O'Leary sieht ziemlich heruntergekommen aus: unrasiert, zerzauste | |
Haare, Ringe unter den Augen und die Stimme noch ein paar Nuancen | |
knarrender als sonst. „Ich stehe gerade bei der Verfilmung des Defoe-Romans | |
,Moll Flanders‘ vor der Kamera“, sagt der Dubliner Schauspieler, „und ich | |
spiele wie immer einen Schurken.“ In dem für mehrere Oscars nominierten „Im | |
Namen des Vaters“ mit Daniel Day-Lewis spielte er einen Gefangenen, im | |
Richard-Harris-Film „Das Feld“ war er das stets übelgelaunte | |
Familienoberhaupt des fahrenden Volkes. Aber bekannt ist er in Irland durch | |
seine Rolle als historischer Volksheld geworden: Wann immer im Film oder | |
auf der Bühne der Gewerkschaftsgründer Jim Larkin auftritt, wird er von | |
O'Leary gespielt. | |
„Wir haben heute in Thurles gedreht“, knarrt O'Leary, „da ist mir | |
aufgefallen, daß jeder Dödel sein eigenes Denkmal hat. Das ganze Land ist | |
voll davon. Aber einer, der es wirklich verdient hätte, ist bis heute leer | |
ausgegangen: der größte Sohn von Thurles.“ Die Kleinstadt mit knapp 10.000 | |
EinwohnerInnen liegt in der irischen Grafschaft Tipperary. Die alte | |
Bischofsstadt ist wegen ihrer ehemaligen Zisterzienserabtei aus dem 13. | |
Jahrhundert bekannt. Außerdem ist in der Totenkapelle der Kathedrale | |
Erzbischof Croke begraben, einer der Mitbegründer des Gälischen | |
Sportverbandes, der seit Ende des vergangenen Jahrhunderts die | |
traditionellen Sportarten Gaelic Football und Hurling fördert. | |
Aber Thurles hat auch einen Boxweltmeister im Schwergewicht hervorgebracht: | |
Paddy Ryan, geboren am 15. März 1853. „Er wanderte später mit seinen Eltern | |
nach Troy, New York, aus und erwarb sich bald einen Kampfnamen: Der | |
Trojanische Gigant“, sagt O'Leary, der im Nebenberuf ein wandelndes | |
Sportlexikon ist. Am 30. Mai 1880 schlug Ryan im Bahnhof von Colliers an | |
der Grenze zwischen West Virginia und Pennsylvania den Engländer Joe Coss | |
k.o. – nach 87 Runden mit blanken Fäusten. „Das ist in den Annalen der | |
Boxgeschichte festgehalten und anerkannt“, sagt O'Leary. „Was Ryan so | |
einzigartig macht, ist die Tatsache, daß es sein erster Profikampf war. Das | |
ist vor ihm oder nach ihm keinem Kämpfer mehr gelungen.“ | |
Freilich verlor er den Titel in seinem zweiten Kampf gleich wieder, und | |
zwar gegen den ehemaligen Priesterschüler John Lawrence Sullivan – „Die | |
Hand, die die Welt erschütterte“, nennt O'Leary ihn. Den denkwürdigen | |
ersten „offiziellen“ Weltmeisterschaftskampf am 7. Februar 1882 im Barnes | |
Hotel von Mississippi City gewann Sullivan in der 9. Runde durch k.o., und | |
der Dubliner Schriftsteller Oscar Wilde war dabei. „Er war auf einer | |
Vorlesungsreise durch Amerika“, sagt O'Leary, „als er von einer Londoner | |
Zeitschrift den Auftrag bekam, über den Boxkampf zu berichten. Das steht in | |
keiner Wilde-Biographie, und leider konnte ich den Artikel bisher nicht | |
ausfindig machen.“ | |
Im selben Jahr wurde Franklin D. Roosevelt geboren, Geronimo, der letzte | |
der großen Häuptlinge, organisierte noch die Verteidigung, Polygamie wurde | |
in den USA verboten, und der berüchtigte Jesse James, der selbst | |
vierhundert Meilen geritten war, um dem Ryan-Sullivan-Kampf inkognito | |
beizuwohnen, in St. Joseph, Missouri hinterrücks erschossen. „Wilde war bei | |
der Beerdigung dabei und hat auch darüber geschrieben“, meint O'Leary, | |
„aber das ist im Gegensatz zu seinem Boxartikel weithin bekannt.“ | |
Dreizehn Jahre später wurde Wilde wegen Homosexualität zu zwei Jahren | |
Zuchthaus verurteilt, nachdem er mit seiner Verleumdungsklage gegen John | |
Sholto Douglas, Marquess of Queensberry und Vater seines Freundes Alfred | |
Douglas, vor Gericht unterlegen war. Jener Marquess hatte 1867 das | |
Regelwerk des Boxens erarbeitet, das in groben Zügen auch heute noch gültig | |
ist und unter anderem Boxhandschuhe vorsah. Paddy Ryan und John L. Sullivan | |
hatten allerdings noch nach anderen Regeln und mit bloßen Fäusten geboxt, | |
die „Queensberry Rules“ setzten sich erst 1889 in den USA durch. | |
Über den Streit zwischen Oscar Wilde und Queensberry schrieb auch Dublins | |
schriftstellernder Trinker Brendan Behan. In seiner Kurzgeschichte „Nach | |
der Totenwache“ heißt es, daß „Lord Alfred Douglas immerhin der Sohn des | |
Marquess von Queensberry war und ein ganzer Kerl, der auch seine Fäuste gut | |
zu gebrauchen wußte, als Oscar Wilde den alten Q. die Treppe hinunterwarf | |
und seinen Kammerdiener gleich hinterher“. O'Leary sagt dazu: „Wilde starb | |
1900, Ryan ein Jahr danach, und Lord Queensberry hat die Gewichtsklassen | |
und die allgemeinen Regeln für den Boxsport eingeführt. So schließt sich | |
der Kreis.“ | |
Daß dieser „noble Sohn von Tipperary und Thurles“ so schmählich | |
vernachlässigt wird, hat O'Leary nicht ruhen lassen, und er hat sich daran | |
gemacht, Sorge zu tragen, dem „außergewöhnlichsten Helden in der Geschichte | |
des Individualsports“ Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Leserbriefe in | |
The Tipperary Star und The Irish Press haben bereits Aufsehen erregt. „Halt | |
durch, Paddy Ryan“, hat O'Leary darin weisgesagt, „eines Tages werden sie | |
mit dir sein.“ | |
31 May 1995 | |
## AUTOREN | |
Ralf Sotscheck | |
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