# taz.de -- Lummerland ist abgebrannt | |
> Michael Ende, dessen Figuren zum festen Mobiliar der | |
> bundesrepublikanischen Kinderzimmer gehören, ist tot ■ Von Jörg Lau | |
Ein Genrebild der späten Bundesrepublik: Bei der großen | |
Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten tragen nicht wenige Beteiligte | |
ein Buch unter dem Arm, eine Grundschrift der alternativen Weltsicht. Es | |
ist aber kein politisches Pamphlet, sondern ein Kinderbuch: „Momo“. Darin | |
wird die Geschichte eines Mädchens erzählt, das den Menschen, die von den | |
„grauen Herren“ zum Zeitsparen überredet worden waren, die Zeit zurückgibt | |
– ein zivilisationskritischer Mythos, der die Revision unserer auf | |
rechenhaftem Denken beruhenden Ordnung beschwört. | |
Michael Ende, der Autor dieses Bestsellers, war stolz darauf, mit seinem | |
romantischen Märchen auf die Mentalität der Alternativszene eingewirkt zu | |
haben – „wie in den sechziger Jahren die Mao-Bibel“ (Ende). Am Montag abe… | |
ist er in einem Stuttgarter Krankenhaus an Magenkrebs gestorben. | |
Ende hatte biographische Gründe, mit den Friedensbewegten zu | |
sympathisieren. Der 1929 Geborene wurde noch 1945 zur Armee eingezogen. Er | |
desertierte und nahm Kontakt zur „Freiheitsaktion Bayern“ auf. Schon in | |
seiner Kindheit war er mit dem Gesinnungsterror der Nazis konfrontiert | |
worden. Seinem Vater, dem surrealistischen Maler Edgar Ende, wurde 1936 ein | |
Berufsverbot erteilt. Sein späterer Welterfolg als Schriftsteller hat | |
vergessen lassen, daß Ende sich nach dem Besuch einer Waldorfschule | |
zunächst in fremden Genres versucht hatte – als Schauspieler, Filmkritiker | |
und Dramatiker waren ihm nur mäßige Erfolge beschieden. | |
Der Durchbruch kam 1960 mit einem Kinderbuch, dessen Erfindungen bis heute | |
zum Mobiliar der bundesrepublikanischen Kinderwelt gehören: Wer in den | |
sechziger und siebziger Jahren aufgewachsen ist, war in Lummerland zu | |
Hause. Jim Knopf, Lukas der Lokomotivführer, die Lok Emma, König Alfons, | |
der Viertel-Vor- Zwölfte, Frau Waas und Herr Ärmel bildeten auf ihrer Insel | |
eine märchenhafte kleine Welt von zauberhafter Konfliktlösungskompetenz, | |
ein monarchistisch-sozialdemokratisches Paradies: Gerne ließ sich Herr | |
Ärmel von dem guten König regieren, solange Frau Waas, die Ladenbesitzerin, | |
die Erdbeereisversorgung sicherte. Das Problem der Überbevölkerung, das | |
sich den Lummerländern mit dem Auftauchen des Negerbabys Jim in einem | |
Postpaket stellt, konnten sie nach manchem Abenteuer durch Angliederung | |
einer schwimmenden Insel lösen. Nie hätten diese freundlichen Wesen | |
Lummerland mit Asylbeschlüssen und Schengener Abkommen abzuriegeln | |
versucht. | |
Das Buch wurde preisgekrönt und in 20 Sprachen übersetzt. Mit „Momo“ (197… | |
und der „Unendlichen Geschichte“ (1979) wurde Michael Ende schließlich zum | |
repräsentativen Mythenlieferanten nicht nur für Jugendliche – vor allem für | |
Erwachsene, die sich den Blick auf Kinder als die reinen, authentischen, | |
unverformten Menschen bewahrt haben. Daß sich die „Unendliche Geschichte“ | |
allein in der deutschen Ausgabe über eine Million Male verkaufte, mag auch | |
mit einer Mentalität hierzulande zu tun haben, deren Kernsatz lautet: „Ich | |
bin klein, mein Herz ist rein.“ Momo und Bastian Balthasar Bux, in ihrem | |
Kampf gegen die „grauen Herren“ beziehungsweise gegen das Phantásien | |
bedrohende „Nichts“, sind Ikonen der bundesrepublikanischen Kulturkritik. | |
„Wir kommen aus dem finstersten Materialismus, in dem alle Werte zugrunde | |
gegangen sind“, sagte Ende im Gespräch mit Joseph Beuys, mit dem ihn die | |
Begeisterung für die Philosophie Rudolf Steiners verband. Michael Ende war | |
auf seine bescheidene, aber ungeheuer erfolgreiche Weise ein | |
repräsentativer Schriftsteller Westdeutschlands. | |
Es wäre nur konsequent, wenn jetzt eine der vielen derzeit unbenannten | |
Straßen im Osten seinen Namen erhalten sollte, wie der Berliner | |
Kultursenator Ulrich Roloff-Momin vorgeschlagen hat. Bald schon wird bei | |
Ende nachschlagen, wer wissen will, wie die Bundesrepublik gewesen ist. | |
30 Aug 1995 | |
## AUTOREN | |
Jörg Lau | |
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