# taz.de -- Unsichtbare Bevölkerung | |
> Der Präsident der Elfenbeinküste kann weiterregieren – aber die Wahlen | |
> vom Sonntag haben seinem Image nichts genutzt ■ Aus Abidjan Dominic | |
> Johnson | |
Am großen Tag ist Abidjan wie ausgestorben. Ob im Zentrum der Metropole der | |
Elfenbeinküste, ob in den vornehmen Villenvierteln oder in den Vororten und | |
Slums – am Wahlsonntag sind Märkte geschlossen, Straßen und Plätze | |
verwaist. Wo sonst auch am Wochenende im Gewusel von Marktständen, | |
fliegenden Händlern und wild durcheinanderkurvenden Fahrzeugen kein | |
Durchkommen ist, erstrecken sich jetzt in der heißen Morgensonne | |
menschenleere Boulevards zwischen Blechhütten und Holzverschlägen bis an | |
den Horizont. | |
Als müßte dort hinten gleich die feindliche Kavallerie aus dem Staub | |
auftauchen, stehen einige wenige Soldaten und Polizisten mit wachem Blick | |
an der Kreuzung, beäugt von Straßenkindern und einigen Flaneuren. Die | |
Bevölkerung ist unsichtbar. | |
„Sicher, die Leute haben Angst“, sagt ein Polizist, der vor einem Wahlbüro | |
im Stadtteil Abobo Wache schiebt. „Nein, die Leute haben nicht nur Angst“, | |
meint Aboubacar Sidick Diabate, Chefredakteur des Organs der | |
oppositionellen „Ivorischen Volksfront“ (FPI), La Voie: „Viele sind aus | |
Überzeugung zu Hause geblieben.“ Das FPI-geführte Oppositionsbündnis | |
„Republikanische Front“ hatte für die Präsidentschaftswahl zum „aktiven | |
Boykott“ aufgerufen. Die letzten Wochen waren eine Zeit eskalierender | |
Gewalt von beiden Seiten. Erst am vergangenen Donnerstag verkündete die | |
Regierung den Einsatz von Militär zum Schutz der Wahlbüros. Am Samstag | |
wurde der als zu gemäßigt geltende Armeechef Robert Guei entlassen und auf | |
den neuen Posten eines „Zivildienstministers“ abgeschoben. | |
„Wir werden die Wahllokale anzünden“, brüstete sich vor der Wahl ein | |
Bewohner des Stadtviertels Abobo. „Es wird keine Probleme geben“, lachte | |
dagegen ein junger Wahlhelfer der Regierungspartei PDCI im gehobenen | |
Viertel Cocody bei der Vorbereitung der Abschlußkundgebung. „Alles wird | |
ganz ruhig ablaufen. Es gibt Armee, Polizei, Gendarmerie und zivile | |
Sicherheitskräfte.“ | |
Der Wahlhelfer behält recht. In Abobo brennen keine Wahllokale, sondern es | |
ist so ruhig, daß einige Wahlbüros am Mittag noch nicht einmal geöffnet | |
haben. „Die Wahlurnen sind noch nicht da“, erklärt ein Soldat, der gegen | |
halb eins den Weg zum nächsten Wahllokal weist. Eigentlich sollte es um | |
acht Uhr losgehen, doch Wahlbeginn ist oft eher zwei oder drei Stunden | |
später. Wählen ist kompliziert. Der Wahlleiter im Schulgebäude führt einer | |
jungen Frau vor, was sie zu tun hat: In der linken Hand hält er den weißen | |
Stimmzettel von Staatschef Henri Konan Bedié zusammen mit dem zum Einwurf | |
in die Urne bestimmten Umschlag, mit der rechten Hand zerknüllt er den | |
blauen Zettel des einzigen Gegenkandidaten, Francis Wodié. „Das müssen Sie | |
in der Wahlkabine machen“, schärft er der Frau ein, die mit der Prozedur | |
völlig überfordert wirkt. Sie verschwindet hinter einer Sperrholzwand, | |
kommt kurz darauf mit dem weißen Zettel in der Hand wieder heraus und geht, | |
nachdem sie auf der Wählerliste ordnungsgemäß ihren Fingerabdruck | |
hinterlassen hat. | |
Zurück in der Kabine bleibt der Umschlag mit dem blauen Zettel. Das bemerkt | |
eine Besucherin, die den Wahlzettel schließlich selber in die transparente | |
Urne steckt: Wenigstens eine Stimme für Wodié, der allgemein als | |
chancenloser, möglicherweise sogar gekaufter Außenseiter gilt. | |
Es gibt viele Merkwürdigkeiten bei dieser Wahl, die dem seit Dezember 1993 | |
amtierenden Staatschef Henri Konan Bedié eigentlich eine demokratische | |
Legitimation verschaffen soll. Eine unabhängige Wahlkommission gibt es | |
nicht – ein wichtiger Grund für den Boykott der Opposition. Beobachter der | |
beiden kandidierenden Parteien – Bediés ehemalige Staatspartei PDCI | |
(Demokratische Partei der Elfenbeinküste) und Wodiés winziger | |
Sozialistenverein PIT (Ivoirische Arbeiterpartei) – sollen in jedem | |
Wahllokal sitzen, aber in den sechs Wahllokalen der Schule in Abobo ist von | |
der PIT überhaupt niemand da, und in einem anderen Wahlbüro mit ebenfalls | |
sechs Wahllokalen im Stadtteil Yopougon nur einer. Meistens ist der | |
Beobachter der Regierungspartei allein mit den beiden Wahlleitern, die oft | |
selber Staatsbedienstete sind. Eine unabhängige Kontrolle des Wahlablaufs | |
ist da nicht gewährleistet. | |
Im einen Wahlbüro dürfen Wähler ohne Wahlkarten nach Prüfung ihrer | |
Personalien antreten, im nächsten werden sie weggeschickt, im dritten | |
liegen die Wahlkarten entgegen jeglicher Ordnung stapelweise auf dem Tisch | |
des Wahlleiters. Die Wahlurnen sind manchmal gar nicht oder nur auf einer | |
Seite mit einem Vorhängeschloß gesichert. „Sie müssen den Umschlag | |
sorgfältig zumachen, sonst ist Ihre Stimme ungültig!“ schärft der | |
PIT-Beobachter in Yopougon einem Wähler ein. Im Wahllokal gegenüber ruft | |
der Wahlleiter: „Sie brauchen den Umschlag nicht zuzumachen, werfen Sie ihn | |
einfach rein!“ | |
Abidjan bleibt totenstill; es scheinen sich nur wenige in die Wahllokale zu | |
verirren, und nirgends versuchen Boykotteure, diesen Wahlablauf zu | |
verhindern. In vielen Städten der Elfenbeinküste ist es ganz anders. In | |
Odienne im Nordwesten des Landes haben Oppositionelle schon am Freitag die | |
Wahlmaterialen verbrannt, und das Staatsfernsehen zeigt abends aus der | |
Stadt Bilder von verwüsteten Straßenzügen – am nächsten Morgen jedoch | |
meldet die Regierungszeitung Fraternité Matin aus Odienne eine | |
Wahlbeteiligung von 45 Prozent. | |
In Gagnoa im Westen, vor der Wahl Zentrum gewalttätiger | |
Auseinandersetzungen, gibt es nur ein einziges Wahllokal – in der | |
Präfektur. Hier haben nur „Aktivisten“ gewählt, heißt es später. | |
Die Elfenbeinküste bleibt auch nach dieser Wahl ein gespaltenes Land. Nach | |
Angaben des Innenministeriums hat Bedié über 90 Prozent der abgegebenen | |
Stimmen erhalten, bei einer Wahlbeteiligung von 62 Prozent – die | |
Wahlbeteiligung allerdings wird von der Opposition wesentlich niedriger | |
eingeschätzt, und auch internationale Wahlbeobachter zeigten sich | |
„erstaunt“ über die angeblichen 62 Prozent. Es ist kaum abzusehen, daß | |
plötzlich Eintracht einkehren wird, wenn im November das Parlament gewählt | |
wird und im Dezember Kommunalwahlen stattfinden. Viele rechnen eher mit | |
zunehmenden Spannungen: „Das Problem der Elfenbeinküste ist, daß sie keine | |
nationale Identität besitzt“, sagt Chefredakteur Diabate – und hält einen | |
Machtwechsel für notwendig, damit sich nach 35 Jahren | |
Frankreich-Orientierung eine eigene Identität herausbilden kann. | |
Frederic Grah Mel, Literaturdozent an der Universität von Abidjan, ist | |
pessimistischer: „Die Politiker haben die Gesellschaft als Geisel | |
genommen“, sagt er. „Die Leute sind gezwungen, sich den Politikern als | |
Klientel anzubieten. Die einen singen das hohe Lied der PDCI, die anderen | |
gehen zur Opposition, um gegen die Diebe zu kämpfen.“ Der Akademiker, der | |
sich resigniert aus dem politischen Leben zurückgezogen hat, sieht Fehler | |
bei Regierung wie Opposition: „Bedié ist die personifizierte Korruption. | |
Man kann korrupt und intelligent zugleich sein, aber das ist Bedié nicht. | |
Der Opposition wiederum mangelt es an historischer Perspektive. Für sie | |
heißt es: 1995 oder nie.“ | |
Am Wahlabend bleibt in Abidjan jeder unter sich. Selbst in Cocody, wo Bedié | |
lebt und wo am Tag vor der Wahl die PDCI noch einen letzten Wahlumzug mit | |
Bläserkapelle, Luftballons und singenden Anhängern in Fahrzeugen der | |
Stadtverwaltung durch die Straßen schickte und für Sonntag eine große | |
Wahlfete ankündigte, ist wenig Feststimmung zu spüren. Das Freiluftzentrum | |
der Bedié-Wahlkampagne, geschmückt mit großen Leuchtbuchstaben und grünen | |
Fähnchen, ist abgezäunt und von Soldaten bewacht. Die Straße, die an der | |
Residenz des Präsidenten vorbeiführt, ist ohnehin seit Anfang Oktober | |
abgesperrt – offenbar auf Dauer: Fest in den Boden gerammte | |
Verkehrsschilder und frische Straßenmarkierungen legen dem Autofahrer das | |
Abbiegen nahe. | |
Einige Autominuten weiter empfängt Laurent Gbagbo, Führer der FPI und damit | |
Führer der boykottierenden Opposition der Elfenbeinküste, seine Getreuen im | |
kleinen Kreis. Der mehrmals verhaftete Dissident, der bei der ersten | |
Präsidentschaftswahl mit mehreren Kandidaten im Jahre 1990 18 Prozent | |
errang, sitzt im blauen Festgewand auf einem blaubezogenen Gartenstuhl und | |
versucht nach Kräften, ein wenig Stimmung aufkommen zu lassen: Er reißt | |
Witze, erzählt Anekdoten aus der Vergangenheit, lacht den etwa 25 vor ihm | |
versammelten Parteiaktivisten aufmunternd zu. Die aber bleiben zum größten | |
Teil still und ernst. Offenbar sind sie sich nicht ganz sicher, für wen die | |
überraschende Ruhe am Wahltag einen Sieg darstellt. | |
„Unsere Strategie war erfolgreich“, sagt schließlich Abou Drahmane Sangare, | |
Kampagnenleiter und Nummer zwei der FPI. „Die Leute sind nicht wählen | |
gegangen, weil wir sie überzeugt haben.“ Bedié, der unter umstrittenen | |
Umständen nach dem Tod des langjährigen Landesvaters Felix Houphouet-Boigny | |
die Macht übernahm, ist für ihn nach wie vor kein legitimer Präsident: „Was | |
ist das für eine Regierungspartei, die es nicht einmal schafft, Leute an | |
die Wahlurnen zu bewegen?“ | |
Der Boykottaufruf gelte vorerst weiter, auch im Vorlauf zu den Wahlen der | |
nächsten Monate. „Wir unterscheiden nicht zwischen den verschiedenen | |
Wahlgängen. Man kann die einzelnen Zutaten eines Kuchens nicht getrennt | |
essen“. | |
Unter welchen Bedingungen wird sich die FPI an der Parlamentswahl | |
beteiligen? „Wir haben keine Verhandlungsplattform. Wir wissen, daß man | |
eines Tages auf uns zukommen werden muß, um dieses Land zu regieren. An uns | |
kommt jetzt keiner mehr vorbei.“ | |
In seiner letzten Wahlkampfrede hatte Bedié die Oppositionsparteien zur | |
Teilnahme an der kommenden Parlamentswahl aufgefordert. „Wir garantieren | |
ehrliche und transparente Wahlen“, hatte er erklärt, so als ob die | |
Präsidentschaftswahl dieser Beschreibung nicht entspräche. Außerdem sagte | |
er eine Überprüfung der Wählerlisten zu – eine von der Regierung bisher | |
abgelehnte Forderung der Opposition. | |
Gbagbo erzählt, am Tag vor der Wahl habe der Präsident ihn gebeten, vor dem | |
Hintergrund dieser Zugeständnisse den Wahlboykott in letzter Minute | |
abzublasen. Hier lachen seine Zuhörer. Bediés politische Manöver geben | |
ihnen mehr Zuversicht als die Ereignisse auf der Straße. Die Opposition | |
nährt sich aus dem Selbsterhaltungstrieb einer Staatsmacht, die ihre | |
Lebensdauer gerade um fünf Jahre verlängert hat. Der große Knall ist | |
verschoben. | |
24 Oct 1995 | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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