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# taz.de -- Archaischer Krieg, postmoderner Frieden
> Das Todesurteil für die jugoslawischen Städte fällt im Namen einer
> mythischen Gerechtigkeitsidee  ■ Von Bogdan Bogdanović
Millionen von Jahren waren für die Entwicklung vom Tier zum Menschen
notwendig. Offenbar genügt aber eine einzige Nacht, damit die Menschen sich
in Nashörner verwandeln. Es ist mittlerweile vielleicht sinnlos, all das
aufzuzählen, was durch solche Figuren, wie sie in Ionescos Phantasie
entstanden sind, im ehemaligen Jugoslawien zertrampelt und vernichtet
wurde. Das Verbrechen entwickelt sich allmählich zu etwas, mit dem sich der
heutige, angeblich zivilisierte Mensch bereits vollständig arrangiert.
Dennoch ruft man sich unvermeidlich den Würgegriff ins Gedächtnis zurück,
der noch immer die Städte umklammert hält, die Raketen, die am hellichten
Tag auf belebte Plätze niedergehen, die fortwährende Zerstörung von
Kulturdenkmälern und die brennenden Bücher und Handschriften. Der Teufel
hat alle Hände voll zu tun, und die toten Städte liegen hinter uns.
Krieg und Ethik sind nur schwer auf einen Nenner zu bringen, noch
schwieriger auszusöhnen. Dennoch gab es in der Geschichte der Kriegsführung
gelegentlich auch so etwas wie Etikette, nämlich soviel, wie es die
selbstgefällige Ehre den vorgeblichen Helden und Heerführern auferlegte. Da
Ehrgefühl heutzutage unbekannt ist, werden Städte nicht mehr erobert,
sondern zuerst, also „a priori“, feige zerstört. Die ethnisch gesäuberten
Gebiete und Orte werden dann „a posteriori“ in Brand gesteckt, damit die
überlebenden Flüchtlinge nicht auf den Gedanken kommen, in ihre Häuser
zurückzukehren. Ich habe unbewußt technische Termini aus Kants Philosophie
mißbraucht – vermutlich deshalb, weil nicht einmal Immanuel Kant in der
Lage wäre, auf den heutigen Landkarten seine Geburtsstadt wiederzufinden.
Heute, am Ende des 20. Jahrhunderts, verhängen himmlische Krieger, Krieger
ohne Angst und Tadel, unnachgiebig ihr Todesurteil über Städte, alles im
Namen einer ewigen, mythischen Gerechtigkeit und ein wenig auch aus
politischen, demographischen oder konfessionellen Gründen. Die blinde
Besessenheit ist manchmal so gewaltig, daß der Terror an der städtischen
Bevölkerung die Ankündigung einer neuen, verbrecherischen Mode in der
zeitgenössischen Geschichte zu sein scheint. Das Schicksal von Vukovar war
eigentlich für Dubrovnik bestimmt und hat sich unerwartet, aus einer
anderen Richtung, gegen Mostar gerichtet – bleibt noch abzuwarten, in
welchem Teil der Welt sich die an Sarajevo erprobte Würgetechnik
wiederholen wird.
Und noch ein weiteres Unglück wird bei uns vor Ort ausprobiert. Was auf den
ersten Blick weniger bedrohlich zu sein scheint, ist in Wirklichkeit
hinterhältig und auf eine langfristige Kettenreaktion kalkuliert – die Rede
ist von der gewaltsamen Aufteilung der Städte. In einem zwielichtigen Krieg
werden zwielichtige Ideen schnell ansteckend. Die oft wiederholte Forderung
nach einer Aufteilung Sarajevos bewirkte die Spaltung von Mostar. Auch
diese neue „Technologie“ könnte sich aus dem lokalen Rahmen stehlen und mit
scheinbar veränderter Begründung auf vollkommen andere und andersgeartete
Koordinaten übertragen werden. Die Folgen wären unabsehbar, denn
akzeptierte man die Teilung von Städten und die ethnische Selektion der
Bevölkerung, wären zahlreiche moderne Metropolen der Selbstzerstückelung,
ja regelrechten rassistischen, kulturellen, subkulturellen, konfessionellen
und subkonfessionellen Explosionen ausgesetzt. Plötzlich würden bisher noch
unsichtbare Spaltungen an der Oberfläche auftauchen und die Bevölkerung
nach territorialen Gesichtspunkten und den wilden Gesetzen neuentworfener
Stämme, Bruderschaften und Sekten gemäß eingeteilt.
Im Augenblick würde es kaum jemand wagen, Parallelen zwischen dem
schrecklichen Ereignis in Oklahoma City und der Vernichtung von Vukovar
oder Grosny zu ziehen. Es wäre aber eine bittere Erkenntnis, wenn sich in
naher Zukunft herausstellen sollte, daß die irrationalen Motive der
Zerstörer ähnlich, wenn nicht gar identisch waren.
Trotz der zahlreichen Neuheiten und frisch erworbenen kriegstechnischen
Künste ist der im ehemaligen Jugoslawien wütende Krieg im psychologischen
Sinne sehr altmodisch. In der Geschichte des Krieges existiert der Begriff
„archaischer Krieg“. In ihrer magisch-mythischen Denkweise griffen die
Krieger nicht nur die physisch existierende Stadt an, sondern auch all das,
was ihre ureigene Beständigkeit und Stärke darstellte. Es genügte nicht,
die Stadt zu töten, sie mußte vielmehr erniedrigt und von ihrem verborgenen
geistigen Wesen abgetrennt werden. Natürlich wäre es lächerlich zu
behaupten, die heutigen Krieger seien in der Lage, den symbolischen Wert
der Städte zu erkennen, die sie zerstören, und doch spüren sie mit dem
groben Instinkt des Primitiven die Funktion der Abstraktionen, auf denen
die geistige Kraft der Stadt beruht. Ob sie sich dabei noch vor der
bedrohlichen, okkulten Macht einer unverständlichen Erscheinung fürchten,
vermag ich nicht zu sagen. Es würde mich aber nicht überraschen, wenn
zukünftige ethnopsychologische Untersuchungen auch diese Seite des
verängstigten, blutrünstigen modernen Barbaren aufzeigen würden.
Die Umbenennung von Orten ist uralt und gleichzeitig die einfachste Art,
den geheimnisvollen Kern des Wesens einer Stadt zu entwaffnen. Wie viele
kleine oder winzige Ortschaften haben in diesem Krieg neue, oftmals
unsinnige Namen erhalten! Wieso gibt es in der Krajina, in Slawonien oder
Bosnien auf einmal so zahlreiche, bisher unbekannte Orte mit Namen wie
„Srbobrani“ oder „Srbinje“? Die Antwort ist einfach. In einer magischen
Weltauffassung ist der Name der schicksalhafte Talisman eines Menschen,
einer Stadt oder eines Staates. Das antike Rom hatte zwei Namen: einen
offiziellen und einen anderen, den nur der oberste Priester kannte und den
er unter keinen Umständen preisgeben durfte. Hätte sich jemand dieses
anderen, wahren Namens der Stadt bemächtigt, hätte er damit auch
unbegrenzte Macht über die Stadt erlangt.
Die Regression der heutigen
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Fortsetzung
Zerstörer und Mörder von Städten übertrifft leider bei weitem die
glorreiche Vernichtung von Insignien und Talismanen und leitete eines der
grausamsten Kapitel in der Geschichte des Krieges ein.
Der zivilisierte Mensch hat seine Phantasie leichtfertig der unwirklichen
Wirklichkeit der Fernsehbilder überlassen. Außerhalb des Fernsehbildschirms
findet er sich nur schwer zurecht mit der intimen Grausamkeit der
Ereignisse. Der Mangel an eigener Phantasie in einer so komplizierten und
gefährlichen Zeit wie der unseren ist nicht nur eine häßliche geistige
Trägheit, er kann auch ein Vergehen an der gesamten Wahrheit sein ... Was
beinhaltet zum Beispiel die Entscheidung, der Bevölkerung Wasser zu
verweigern? Für uns, die diesen Krieg aus der Ferne erleben, ist der uralte
Sadismus einer solchen Handlung kaum vorstellbar oder intuitiv erfaßbar.
Die persischen Satrapen spielten gerne mit der Macht des Wassers. Manchmal
leiteten sie tobende Flußströme in Städte und weichten die Wälle aus
Lehmziegeln auf. Es kam aber auch vor, daß sie Wasserquellen mit den Hufen
ihrer Pferde verunreinigten und den Städten das Wasser vorenthielten, um
alles Lebende, auch die Menschen, zu Staub und Salpeter auszutrocknen.
Diese uralte Kriegskunst wurde bei der Belagerung Sarajevos nacheinander
viele Male angewandt.
Kürzlich hörte ich hier in Wien folgende wahre Geschichte: Eine Mutter
kämpft sich durch den legendären, verhängnisvollen Tunnel, wobei sie das
Leben ihres kranken Kindes aufs Spiel setzt, schafft es, den
Belagerungsring hinter sich zu lassen und gelangt schließlich an die Küste.
Ihre kleine Tochter, die nicht weiß, daß es auch eine andere Welt außerhalb
des belagerten Sarajevo gibt, stiert entsetzt auf das Meer und wiederholt:
Wasser, Wasser, Wasser. Nur mit Mühe kann man sie davon abhalten, das
Salzwasser zu trinken, und bringt sie zu Bett. Am nächsten Tag wiederholt
sich alles. Sie ist nicht vom Ufer wegzubekommen und flüstert dabei wie im
Schlaf: Wasser, Wasser, Wasser ...
Die Frage, die ich mir selbst, aber auch anderen stelle, könnte
folgendermaßen lauten: Was werden wohl die zukünftigen Bürger dieser Welt,
die heutigen Kinder von Sarajevo, über das menschliche Geschlecht und
unsere wunderbare Zivilisation denken, wenn eines Tages die Wasserhähne in
der Stadt wieder aufgedreht werden können und wenn sie nach drei, vier
Jahren höllischen Durstes plötzlich gierig die ersten Gläser sauberen,
nicht abgekochten Wassers trinken?
Man sagt, auf jeden Krieg folge einmal der Frieden. Die Helden werden müde;
die listigen Politiker kommen schließlich doch zu einer Einigung; den
Hobby-Geographen, aber auch den Gusla spielenden Dichtern,
Shakespeare-Experten und dichtenden Lastwagenfahrern gelingt es, ein
Labyrinth von Grenzverläufen aufzuzeichnen, wobei sie diesen oder jenen
Korridor für zukünftige Auseinandersetzungen und neue Kriege übriglassen.
Welchen inneren Frieden, Frieden in den Menschen können wir aber am Ende
eines biblisch alten, städtezerstörenden Krieges erwarten? Ist
möglicherweise nicht der Glaube an die Prinzipien des urbanen Lebens
definitiv ins Wanken geraten? Und schließlich – wer könnte diesen Frieden
schließen?
Die Kriegsherren und geistigen Vordenker der Zerstörung – wer sonst. Wenn
es schon so ist, dann sollte sie jemand auf die Schnelle belehren, wie
ziviler Frieden auszusehen hat ... pax urbana. Europa ist nicht mehr die
unfehlbare Lehrerin des Lebens, der Westen, der auf einige tausend Jahre
städtischer Erfahrung zurückblicken kann, war nicht weise genug,
rechtzeitig die Dämonen des Antiurbanen zu identifizieren und aufzuhalten.
Über die Lehrmeister der östlichen politischen Breitengrade sollte man in
diesem Augenblick lieber gar nicht erst diskutieren.
Die Prozession bekannter europäischer Persönlichkeiten, die in einem
kritischen Augenblick mit dem Schiff nach Dubrovnik gekommen ist und die
Stadt wirklich vor der Zerstörung bewahrt hat, könnte als Passionsspiel zur
Feier der Stadt aufgefaßt werden. Solche Spiele hätte man aber noch einige
Male vor der Ankündigung der Feuersbrunst wiederholen sollen, bevor die
Könige der Nashörner auf verdächtige Weise feierlich gekrönt wurden ...
Wenn ich über den Frieden nachdenke, und das tue ich ununterbrochen,
erschrecke ich immer wieder bei dem Gedanken daran, wie viele es gibt, die
in diesem Krieg zahllose Verbrechen begangen haben, ohne daß man sie jemals
zählen oder benennen wird. Es müssen Zehntausende sein. Sobald sie ihre
Tarnuniformen abgelegt und sich eine neue Tarnung zugelegt haben, werden
sie unkenntlich sein. Wir werden also mit Nashörnern zusammenleben, die
eine menschliche Gestalt angenommen haben, als sei nichts gewesen, und die
nun versuchen, uns mit dem Charme der Unschuld einzuwickeln. Wird
beispielsweise mein Belgrad jemals seinen Simon Wiesenthal haben?
Es gibt jedoch auch eine ernsthaftere Bedrohung als die Gefahr von
pensionierten Verbrechern. Getarnte, zu allem bereite zukünftige Nashörner
sind weder ein Phänomen Exjugoslawiens noch eine rühmliche Erscheinung der
dinarischen Rasse. Die Aufzucht von Nashörnern wurde bei uns gründlich
erforscht und getestet; wo aber neue Stämme und Bruderschaften derselben
Spezies auftauchen werden, dürfen zu diesem Zeitpunkt lediglich die
Drehbuchautoren postmoderner Horrorfilme prognostizieren.
22 Nov 1995
## AUTOREN
Bogdan Bogdanovic
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