# taz.de -- Oben ohne ist doch längst out | |
> In den Freibädern von Bern baden immer weniger Frauen barbusig. War es | |
> nicht einmal feministische Maxime, die befreiten Brüste zu zeigen? ■ … | |
> Marie-Josée Kuhn | |
Von dieser Front werden wir uns nie zurückdrängen lassen. Zurück zum | |
Bikinioberteil? Zurück zum BH? Und retour zum Rasieren der Haare von Beinen | |
und Achselhöhlen? Niemals, gelobten wir uns damals. Warum sollten wir | |
unsere soeben befreiten Brüste wieder in ein kneifendes Gestell aus Stoff, | |
Drähten und Polsterungen zwängen? Bloß weil sie dem männlichen | |
Schönheitsdiktat nicht entsprechen? Nur weil Brüste gerne schwabbeln beim | |
Gehen, klatschen beim Rennen und je nach Gewicht und Alter mehr oder | |
weniger der Erdanziehung folgen? Sicher nicht. Keinem männlichen Dickwanst, | |
keinem behaarten Sportsfreund und keinem pickligen Hippie käme es in den | |
Sinn, sein Körperstolz könnte eine Beleidigung für das weibliche Auge | |
darstellen. Schließlich waren wir doch selbstbewußt geworden. Das vor allen | |
Dingen. | |
Der Umschwung kam lautlos und schleichend, so daß wir ihn erst gar nicht | |
bemerkten. Bei jedem neuen Bikinioberteil dachten wir: „Pah, ein | |
Sonderfall.“ Zogen Frauen ihre Ganzteiler hoch, bevor sie sich vom Badetuch | |
erhoben, schrieben wir das launiger Empfindsamkeit zu. Auch die Tatsache, | |
daß immer mehr Frauen ihre Beine und Achselhöhlen rasierten, konnte uns | |
vorerst nichts anhaben. Doch irgendwann waren die Veränderungen nicht mehr | |
zu übersehen. Die Lust an Mutters Büstenhalter wuchs, und mit ihr die Schar | |
der BH-Konvertitinnen. Doch wer schürte diese stille Konterrevolution? Die | |
Sicherung des Wirtschaftsstandorts? Die Mode? Oder das Ozonloch? | |
„Es gibt auch so genügend potentielle Krebserreger“, sagt die eine der zwei | |
jungen Frauen, die im Lorrainebad in Bern auf der Wiese im Schatten sitzen | |
– beide in Kleidern. Oben ohne zu baden habe für sie nichts mit | |
Emanzipation zu tun, denn ohne Oberteil rumzulaufen sei für sie reine | |
Äußerlichkeit, Emanzipation dagegen etwas Inneres. Sie sind 21 und 22 Jahre | |
alt und ziehen abwechslungsweise an einem dicken Joint. Nein, das | |
Schönheitsideal kümmere sie überhaupt nicht, nicht mehr in ihrem Alter. Ob | |
sie mit oder ohne Oberteil badeten, einen BH trügen oder nicht, das würden | |
sie spontan und je nach Lust und Laune entscheiden. Natürlich sei es viel | |
angenehmer, Wind und Wasser an den nackten Brüsten zu spüren. Aber wie man | |
aus dem Oben-ohne-Baden ein feministisches Kampfthema machen könne, | |
verstünden sie nicht. | |
„Wir sind anders als ihr älteren Frauen“, erklärt die eine. „Heute sind | |
viele Frauen in unserem Alter frustriert. Sie wissen schon früh, daß Männer | |
minderbemittelt sind. Deshalb haben sie auch keine Lust, diesen Typen ihren | |
nackten Busen zu zeigen.“ Zustimmendes Nicken bei der anderen. „Kürzlich | |
ging ich in einem Freibad oben ohne an einer Gruppe Typen vorbei“, erzählt | |
sie. „,Wau, hat die tolle Möpse‘, sagte einer ganz laut, und die anderen | |
lachten.“ Auf solch armselige Anmache lohne es sich doch gar nicht zu | |
reagieren. Widerspruch bei der Freundin: In solchen Fällen sei das | |
Zurückschlagen gerade wichtig, „diese Machos schränken Frauen ein und | |
nehmen ihnen den Raum weg“. Stirnrunzeln bei der anderen: „Ja, aber was hat | |
das mit der Frauenbewegung zu tun?“ Das habe schon irgendwie damit zu tun, | |
entgegnet die eine, „vor allem mit dem Sich- zur-Wehr-Setzen, obschon ..., | |
andererseits...“ Die beiden jungen Frauen schauen sich an und müssen | |
plötzlich lachen. | |
Der „Spiegeleier-Erlaß“, so hieß an Schweizer Stammtischen die 1978 | |
erlassene Lockerung des Nacktbadeverbots im Kanton Bern. Dieses kam einer | |
Duldung des Oben-ohne-Badens für Frauen gleich. Die sittliche | |
Liberalisierung löste nicht nur in den Zeitungsspalten allerlei Emotionen | |
aus. „Wir erhielten Anrufe und Briefe von empörten Leuten aus der Ecke | |
eines Nationalrats der Evangelisch-Demokratischen Union, aber auch von | |
Befürwortern der neuen Regelung“, erinnert sich der technische Leiter der | |
Berner Badebetriebe, Bruno Ita. Ein Anonymus präsentierte seine Bedenken | |
so: „Gehe ich recht in der Annahme, daß Sie ein Oben- ohne-Hurenbad | |
verwalten?“ Ein anderer Herr aus Basel ließ sich auf zwei engbeschriebenen | |
Schreibmaschinenseiten über den „Segen des ,oben ohne‘ für das Volk“ au… | |
Endlich könnten so die Spannungen in der Öffentlichkeit abgebaut werden, | |
„die durch das ständige Verpacktsein des anderen Geschlechts angezüchtet“ | |
würden. In diesen wilden Endsiebzigern hatte Berns Oberaufseher der Bäder | |
alle Hände voll zu tun, vor allem mit den Voyeuren, die sich insbesondere | |
rund um das Nacktbadeabteil „Paradiesli“ im Marzilibad tummelten. Von einem | |
Eindringling weiß er zu berichten, der splitternackt „Ehrenrunden vor den | |
kreischenden Frauen“ drehte, von einem Kletterer, der sich „im Tarnanzug“ | |
in die nahe gelegenen Pappeln hinaufschwang, um dort „am Kabel zu ziehen“, | |
und von einem Instruktor der städtischen Elektrizitätswerke, der sein Glück | |
mit einem Feldstecher versuchte. | |
Die Zeiten änderten sich, und mit ihnen legte sich auch die kollektive | |
Erregung. „Seit zwei, drei Jahren geht das Oben-ohne-Baden kontinuierlich | |
zurück“, beobachtet Bruno Ita heute. Zumindest im Marzili sehe man keine | |
Frauen mehr oben ohne rumspazieren oder gar im Restaurant des Freibads | |
sitzen. Etwas anders sei die Situation im Berner Lorrainebad: „Dorthin | |
gehen spezielle Leute“, so Ita, „Alternative und Leute aus dem Stadtteil, | |
die einander kennen und am ,oben ohne‘ offenbar keinen Anstoß nehmen.“ | |
„Als ich so 26 bis 28 Jahre alt war, begannen mich plötzlich mein Busen und | |
die behaarten Beine zu stören“, sagt die Frau mit der flotten | |
Kurzhaarfrisur, die in der brütenden Mittagssonne liegt. „Ich fühlte mich | |
plötzlich älter, und die männlichen Blicke begannen mich zunehmend zu | |
stören.“ In jüngeren Jahren, als es noch in war, oben ohne zu baden hätten | |
für sie ganz andere Dinge im Vordergrund gestanden. „Zum Beispiel der | |
Protest gegen mein Elternhaus und die Uneinsicht darüber, warum nur wir | |
Frauen unsere Oberkörper bedeckt halten sollten.“ Die nackten Brüste zu | |
zeigen und ihre Haare an Beinen und in Achselhöhlen nicht zu entfernen sei | |
für sie ein emanzipatorischer Akt gewesen – und habe die gleiche Bedeutung | |
für sie gehabt wie die Diskussionen über feministische Schreibweisen oder | |
das traditionelle Rollenverständnis. „Irgendmal habe ich dann doch | |
angefangen, mir die Beine zu rasieren“, sagt sie augenzwinkernd, „ich | |
glaube, das war mit 26.“ | |
Mit zunehmendem Alter hat auch eine 31jährige Obwaldnerin ein anderes | |
Verhältnis zu ihren Brüsten erhalten. Bei ihr verlief die Entwicklung | |
jedoch genau umgekehrt. Der Entschluß, das Oberteil auszuziehen, war für | |
sie eine „Flucht nach vorne“. „Aus dem Streß heraus, ich hätte viel zu | |
große Brüste, wagte ich mich jahrelang in kein Schwimmbad. Ich erkundigte | |
mich sogar bei Ärzten, wie ich die Brust verkleinern lassen könnte.“ Als | |
die Krankenkasse damals sogar bereit war, die Operation zu bezahlen, war | |
das für die junge Frau der Beweis dafür, „daß ich völlig abnormal bin“.… | |
habe enorm unter dem gängigen Schönheitsideal gelitten, doch irgendwann | |
habe es in ihr „klick“ gemacht – nicht in den Brüsten, sondern im Kopf. | |
Seither habe sie einen anderen Umgang mit ihrer Mittelmäßigkeit, ein | |
anderes Selbstbewußtsein. Je älter sie werde, desto freier könne sie sich | |
nackt bewegen. „Mit 70 werde ich vermutlich splitternackt baden.“ Für die | |
31jährige war das „meine private kleine Frauenbewegung“. Mit der | |
eigentlichen Bewegung habe sie nie etwas am Hut gehabt. Von ihr habe sie | |
sich zu sehr unter Druck gesetzt gefühlt. | |
Als Befreiung erlebt hat das Nacktbaden auch die 51jährige Frau, die das | |
Lorrainebad nur frequentiert, wenn sie ihr Enkelkind hütet. „Ich bin sehr | |
prüde erzogen worden, hatte das Gefühl, häßlich zu sein, und trug deshalb | |
immer einen ganzteiligen Badeanzug“, erklärt sie. Dank feministischer | |
Literatur gelang ihr im Frauennacktbadeabteil „Paradiesli“ eines Tages das | |
Unvorstellbare: Sie zog sich nackt aus und legte sich an die Sonne. „Ein | |
wunderbares Gefühl der Öffnung nach jahrelanger politischer Apathie und | |
Zugeknöpftheit“, sagt sie. Den männlichen Blicken ausgesetzt zu sein mache | |
ihr trotz Aufbruchs nach wie vor Mühe, auch wegen ihres Alters. In | |
gemischten Badeanstalten bade sie deshalb immer oben mit. | |
„Seit ich mit meinem Kleinen ins Familienbad gehe, wo praktisch keine | |
Frauen oben ohne baden, trage ich wieder einen Badeanzug“, erzählt eine | |
andere Frau, die den Nachmittag mit Sohn und Mann im Bad verbringt. Ihre | |
Badegewohnheiten hätten sich seit der Geburt ihres Kindes verändert, gibt | |
die 35jährige freimütig zu. Ihre Nachbarin hat die gleiche Erfahrung | |
gemacht: „Seit ich stille, ist mir die Lust abhanden gekommen, meine Brüste | |
zu entblößen.“ Derzeit hätten ihre Brüste die Funktion einer Milchpumpe, | |
und das ließe sich nur schlecht mit ihrer Vorstellung vom Oben-ohne-Baden | |
vereinbaren. Die entgegengesetzte Neigung entdeckt hat die 29jährige Frau, | |
die sich bisher noch nie ohne Oberteil in der Öffentlichkeit zu zeigen | |
wagte. „Damals im Frauennacktbad Marzili, als so viele Frauen oben ohne | |
waren und von alten Papis umzingelt wurden, hatte ich keine Lust, mich in | |
diesen Brautmarkt von Barbiepuppen reinzusetzen.“ Wegen ihrer dunkleren | |
Haut sei sie eh schon immer angemacht worden, erklärt sie. Seit sie mit | |
Kind und Kinderwagen unterwegs sei, werde sie von den Männern als Mutter | |
respektiert und meistens in Ruhe gelassen. Sie wage sich heute bereits im | |
Minirock auf die Straße, und es werde nicht mehr lange dauern, bis sie auch | |
noch den Badeanzug runterrollen werde. | |
Der letzte Schrei „sind die ,Push-up‘-Bikinis, welche die Brüste zur | |
Geltung bringen“, schrieb die Schweizer Illustrierte Mitte Juni, völlig out | |
seien dagegen jene Frauen, die ihre „sorgfältig gehätschelten Haarbüschel�… | |
unter den Armen zur Schau stellten. Die Lifestyle-Redaktion kommentiert das | |
so: „Das ist doch abscheulich und macht auf Feministin vor dreißig Jahren.“ | |
Ganz im Mainstream sind also jene vier 18- bis 19jährigen Frauen, die sich | |
über Mittag im Marzili von den Schulstrapazen erholen. Einstimmig finden | |
sie Frauen ohne BHs „schlicht unmöglich“. Oben ohne badeten sowieso nur | |
noch die Alten – und damit meinen sie alle Frauen, die 30 und älter sind. | |
Trotz dieses dezidierten Urteils lassen die Mädels Gnade vor Ästhetik | |
ergehen: „Wenn die Alten das unbedingt machen wollen, ist das für uns schon | |
okay“, wirft die eine cool in die Runde. Es scheint, als sei unser Gelübde | |
von damals doch nicht unerhört geblieben. | |
1 Aug 1996 | |
## AUTOREN | |
Marie-Josee Kuhn | |
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