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# taz.de -- Der Barbier von Bebra (1)
> ■ Von Wiglaf Droste und Gerhard Henschel
Der stellvertretende Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei
Deutschlands sah nicht gut aus. Wolfgang Thierse lag rücklings auf dem
Boden. Aus dem weit aufgerissenen Mund des Oppositionspolitikers ragte der
Trichter einer Klarinette, die ihm von unbekannter Hand tief in den Schlund
gestoßen worden war. Damit hatte der politische Jazzfrühschoppen im Thomas-
Mann-Club in Nordhausen ein jähes Ende gefunden.
Immerhin mußte Thierse nun nicht mehr den Anblick der abgenagten Garderobe
ertragen. Seinen musikalischen Mitstreitern hingegen, den Jazzin' Old
Fellows vom SPD-Ortsverein Bad Sachsa, blieb nichts erspart.
„Mensch Wolle!“ rief der Schlagzeuger. „Bist du okay, Mann? Pause ist
vorbei!“
Erst dann wurde ihm das ganze Ausmaß der Katastrophe bewußt. „Wo ist denn
dein Bart geblieben?“ schrie er entgeistert und zuppelte an Thierse herum.
Als der Schlagzeuger mit einem Ruck die Klarinette aus der Speiseröhre des
Sozialdemokraten zog, ertönte ein seltsamer, rauher Plopplaut.
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht vom Ableben des beliebten
Volksvertreters unter den vier Musikanten. Wichtige Spuren wurden zerstört,
als sie sich auf der Suche nach Thierses verschollenem Bart in der
Garderobe drängelten und aufgeregt durch die Clubräume strummselten.
*
„Keiner verläßt den Raum!“ Die Stimme der Kommissarin klang ruhig und kü…
Vor den bierigen, sozialdemokratischen Dixielandfreunden stand Deutschlands
schönste Polizistin: Gisela Güzel von der Berliner Mordkommission. Mit
einem einzigen Blick erfaßte sie die Situation: Thierse tot und rasiert,
Tatort vollgepetert und die Zeugenschar zonaler Bodensatz in kurzen,
mausgrauen Cordhosen.
Die Kommissarin zündete sich gleichgültig eine Zigarette an. „Wer hat ihn
zuletzt lebend gesehen?“
Die Männer schwiegen, unfähig, einen brauchbaren Gedanken zu fassen. Schwer
atmend stierten sie die Kommissarin an. Schließlich trat der Schlagzeuger
auf käsweißen Stakselbeinchen einen Schritt vor; die Knie schlotterten ihm,
es war nicht zu sagen, ob aus Entsetzen über das Attentat oder aus
Verlegenheit und Scham über das pofelige Erscheinungsbild, das er bot. „Er
ist mit einem Wähler in die Garderobe gegangen. Der wollte sich ein Buch
vom Wolle signieren lassen. ,Mit eigener Stimme sprechen‘. Ganz wichtig,
kennen Sie bestimmt!“
Müde winkte Gisela Güzel ab. „Und dazu mußten die beiden in die Garderobe?…
„Ja sicher. Da hatten wir doch unseren Kugelschreiber eingeschlossen.“
Gisela Güzel seufzte. „Können Sie den Mann beschreiben?“
Betreten schaute der Schlagzeuger auf seine Sandalen. „Das ging alles so
schnell...“
Der Ukulelist pflichtete ihm bei: „Ich hab' ihn auch nicht so genau
gesehen. Aber dos wor goronndierd 'n Wessi!“
Grußlos verließ Gisela Güzel den Raum. Diese Pfeifen würden ihr keinen
Millimeter weiterhelfen, soviel war klar.
*
Wie ausgekaut lag Nordhausen vor ihr. Nicht einmal die freundliche
Sommersonne vermochte die Sonntagstristesse zu verscheuchen. Ein Café war
nicht zu sehen, aber aus einiger Entfernung stachen ihr Achselschweiß- und
Frittenfettgerüche aus einer ambulanten Grillstation in die Nase. Gisela
Güzel stellte sich den dort gebrauten Kaffee vor und ging dennoch mutig
weiter.
Schon wieder ein Mord, dachte sie, und schon wieder ist der Bart ab. Wie
bei Markus Meckel. Rasiert und von Hotzenplotzpistolenkugeln durchsiebt,
war der knuffige Mann vor wenigen Tagen in seiner eigenen Tiefkühltruhe
aufgefunden worden. Der Mord an Thierse trug eine ähnliche Handschrift.
Fortsetzung folgt
5 Aug 1996
## AUTOREN
W.Droste / G. Henschel
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