# taz.de -- Stark ohne Muskelpakete | |
> Täter suchen Opfer, keine Gegner. Um sich gegen Gewalt zur Wehr zu | |
> setzen, trainieren Frauen Taekwondo, Karate, Jiu-Jitsu und Wendo ■ Von | |
> Cristina Nord | |
„Früher“, erinnert sich Gisela Wiehe, „da waren wir bei jeder Demo.“ | |
Früher, damit meint die Karatetrainerin die späten siebziger und frühen | |
achtziger Jahre, als Selbstverteidigung und Kampfsport für Frauen gerade | |
aufkamen. Das Training im Dojo, dem Übungsraum für Karate, Jiu-Jitsu und | |
andere Kampfstile, war untrennbar mit frauenpolitischem Engagement | |
verbunden, und neben der Vermittlung von Techniken, durch die sich die | |
einzelne in einer bedrohlichen Situation zur Wehr setzen konnte, stand | |
stets die Auseinandersetzung mit den gesellschaftliche Ursachen | |
frauenfeindlicher Gewalt. | |
Heute sieht das anders aus. Längst bieten gewöhnliche Kampfsportvereine | |
Selbstverteidigungskurse für Frauen an, und zahlreiche Aerobic- oder | |
Fitneßstudios ziehen nach. Oft sind es nur Schnupperkurse, die an einem | |
Wochenende Techniken und Tricks vermitteln wollen, damit Frauen ein Gefühl | |
für die eigene Stärke entwickeln. | |
Doch erst in fortlaufenden Gruppen, im kontinuierlichen Training erlernt | |
man die Bewegungsabläufe wirklich. Was einfach aussehen mag, erfordert ein | |
ausgeprägtes Körpergefühl, Koordinationsfähigkeit, Kondition und | |
schließlich eine Wendigkeit, die sich nicht nach zwei Tagen einstellt. | |
Am Anfang eines jeden Trainings steht eine Konzentrationsübung. So auch in | |
Bärbel Düsings Selbstverteidigungskurs in der Schokofabrik, einem Berliner | |
Frauenzentrum, das Kurse in Wendo, Selbstverteidigung, Streetfighting | |
Tango, Yoga und Feldenkrais anbietet. Mit geschlossenen Augen sitzen sechs | |
junge Frauen im Kreis und stimmen sich auf die folgenden anderthalb Stunden | |
im Dojo ein. Dehnübungen und Laufen dienen zum Aufwärmen; eine erste | |
Partnerübung folgt. Die Frauen nehmen die Kampfhaltung ein, einen stabilen, | |
schulterbreiten Stand mit gebeugten Knien, und versuchen, leichte Schläge | |
bei der Partnerin zu landen, während diese Blocktechniken einsetzt oder | |
ausweicht. Der letzte, kräftigste Schlag jeder Angriffsfolge wird von einem | |
Schrei begleitet. Der sorgt für die richtige Atmung und schüchtert den | |
Gegner ein. | |
Im Mittelpunkt des Trainings steht diesmal die Abwehr einer Ohrfeige. Eine | |
der Frauen setzt zum Schlag an, die Angegriffene stoppt mit einer | |
Blocktechnik. Blitzschnell umfaßt sie das Handgelenk der Gegnerin, zieht es | |
zu sich hin, während sie gleichzeitig mit dem Ellbogen in den Bauch der | |
anderen fährt. Einem möglichen zweiten Schlag weicht sie aus, indem sie | |
abtaucht und am Bein der Angreiferin mit Schulter und Händen einen | |
Hebelgriff ansetzt. Die Gegnerin kippt nach hinten; ein Faustschlag | |
zwischen die Beine rundet die Übung ab. | |
Dabei führen die Kämpferinnen die Schläge und Techniken zwar mit voller | |
Kraft aus, doch sie brechen sie stets ab, bevor sie tatsächlich einen | |
Treffer landen würden. Kommt es doch einmal zu einem ungewollten Kontakt, | |
folgen die Entschuldigungen auf der Stelle. | |
Zum körperlichen kommt das Training in puncto Selbstbehauptung hinzu: In | |
Rollenspielen und Wahrnehmungsübungen loten die Kursteilnehmerinnnen die | |
Spielräume jenseits der physischen Auseinandersetzung aus. Dabei geht es | |
nicht um das blinde Zuschlagen, sondern vielmehr darum zu vermitteln, „daß | |
die physische Selbstverteidigung das letzte Mittel ist“, wie Udo Kumpe, | |
Trainer für Frauenselbstverteidigung im Hochschulsportprogramm der Berliner | |
Universitäten, betont. | |
Es ist auch eine Art von Enthemmungstraining nötig. Denn am Anfang, sagen | |
fast alle Frauen aus Düsings Gruppe, sei es ihnen schwergefallen | |
zuzuschlagen. Ein seltsames Gefühl habe sich bei dem Gedanken eingestellt, | |
einen Sport zu betreiben, durch den man trainiert, wie man jemand anderes | |
gefährlich verletzt. Auch nach dem teils mehrjährigen Training mache sich | |
diese Hemmung noch bemerkbar, nicht zuletzt, weil man gegen Frauen kämpfe. | |
In einer echten Notsituation, da sind sie sich einig, wäre das anders. | |
Kathrin Schimanski, die seit zwei Jahren Wendo trainiert, sieht das | |
ähnlich: „Als ich anfing mit Wendo und einige aggressivere Techniken | |
lernte, da kam mir eine Gänsehaut. Und die Frage: Würde ich das einsetzen? | |
Inzwischen kann ich sagen: ja.“ | |
Wendo umweht ein Hauch von Geheimnis. Denn es ist eine Kombination | |
verschiedener Kampfstile, die Anfang der 70er Jahre in Kanada entwickelt | |
wurde und auschließlich von Frauen an Frauen weitergegeben wird. Über | |
einzelne Techniken wird wenig verraten, was für mehr Sicherheit sorgen | |
soll. Denn in einer Notsituation könnte der Angreifer mit Schlag- und | |
Trittkombinationen überrascht werden, von denen er nichts wissen kann. Ob | |
diese Strategie der Geheimhaltung tatsächlich aufgeht, bleibt offen – | |
schließlich kann jeder, der will, sich zahlreiche Techniken aus anderen | |
Kampfsportstilen aneignen. | |
Einen weiteren Unterschied zu herkömmlichen Kampfsportarten sehen die | |
Wendo-Frauen darin, daß das Training auf die jeweiligen Schwächen und | |
Stärken der Kursteilnehmerinnen eingeht. Niemand muß fürchten, über die | |
Grenzen der eigenen Belastbarkeit hinaus getrieben zu werden. Inken | |
Waehner, Heilpraktikerin und im Nebenberuf Wendo-Trainerin, sagt: „Ich habe | |
viel mit meinen Halswirbeln zu tun, und Wendo ist das einzige, was ich über | |
die ganzen Jahre immer machen konnte, weil sich das Training danach | |
richtet, was ich machen kann, und nicht danach, was gerade angefordert | |
wird.“ | |
Wendo kennt weder Wettkämpfe noch Gurte, und von der fast militärischen | |
Disziplin, wie man sie in anderen Kampfstilen vermutet, hält man nichts. | |
„Leistungsdruck“, erklärt Schimanski, „habe ich tagein, tagaus, da brauc… | |
ich das im Sport nicht mehr.“ | |
Daß auch herkömmliche Kampfsportarten nichts mit Drill zu tun haben müssen, | |
zeigt ein Karatetraining bei „Selbstverteidigung für Frauen e. V.“ im | |
Berliner Bezirk Schöneberg. Seit 1976 existiert der Verein, der von | |
Taekwondo über Jiu Jitsu hin zur Mädchen-Selbstverteidigung alles anbietet, | |
was stärker macht. In der Gruppe von Gisela Wiehe trainieren Frauen mit | |
langjähriger, intensiver Karateerfahrung. | |
Die Blau- und Braungurte um die Hüften gebunden, führen sie vor, daß | |
Kampfsport auch eine ästhetische Seite hat. Denn die synchron vollführten | |
Katas – Schrittfolgen, die Tritte, Block- und Schlagtechniken kombinieren – | |
sehen einfach gut aus. Daß man sich in einer gefährlichen Situation zu | |
verteidigen wüßte, wird dabei zu einem positiven Nebeneffekt. Gelassener | |
und selbstbewußter sei ihr Auftreten, sagen die Frauen aus Wiehes Gruppe. | |
Egal ob bei Pöbeleien in der U-Bahn oder beim nächtlichen Heimweg. | |
12 Sep 1996 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
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