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# taz.de -- Freispruch wegen Dummheit
> Am 1. Oktober vor fünfzig Jahren wurden die Urteile im Nürnberger
> Kriegsverbrecher- prozeß verkündet. Es gab drei Freisprüche: einen davon
> für „Hitlers Finanzgenie“ Hjalmar Schacht. Aber geurteilt wurde nicht
> über die historische Verantwortung für die NS-Diktatur. Seinen Freispruch
> verdankte er ausschließlich den rechtsstaatlichen Prinzipien, deren
> Abschaffung er als große Errungenschaft gefeiert hatte  ■ Von Niels
> Kadritzke
Als US-Hauptankläger Robert H. Jackson am 20. November 1945 den Nürnberger
Prozeß eröffnete, sprach er den Satz: „Daß die vier großen Siegermächte
(...) ihre gefangenen Feinde freiwillig dem Richtspruch des Gesetzes
übergeben, ist eines der bedeutsamsten Zugeständnisse, das die Macht jemals
der Vernunft eingeräumt hat.“
Das klang wunderbar. Aber derselbe Jackson hielt es für undenkbar, daß auch
nur einer der Angeklagten freigesprochen würde. Für ihn bedeutete
„historische Gerechtigkeit“ die Verurteilung aller „Hauptkriegsverbrecher…
Daß Gerechtigkeit für die Angeklagten und Gerechtigkeit vor der Geschichte
schwer versöhnbar sind, zeigte sich zehn Monate später, als in Nürnberg die
Urteile verkündet wurden. Rechtsstaatliche Prinzipien dienen dem Schutz der
Angeklagten. In Nürnberg waren das Menschen, denen die Ankläger diesen
Schutz durchaus mißgönnten. Mit ihren Urteilen vom 1.Oktober 1946 mußten
die Richter den rechtsstaatlichen Grundsatz „Im Zweifel für den
Angeklagten“ auch gegen ein missionarisches Konzept von historischer
Gerechtigkeit schützen.
Das „Statut für den Internationalen Militärgerichtshof“ (IMG) enthielt dr…
Anklagepunkte: Verbrechen gegen den Frieden; Kriegsverbrechen; Verbrechen
gegen die Menschlichkeit. In der Anklageschrift kam ein vierter hinzu, der
dem Gericht erhebliche Probleme machte: „Beteiligung an einem gemeinsamen
Plan“ mit dem Ziel des Angriffskriegs. In diese unterstellte „Verschwörung…
sah die Anklage alle Angeklagten verwickelt, was sie freilich jedem
individuell nachweisen mußte.
Die Richter bejahten die Teilnahme an der Verschwörung nur bei acht
Angeklagten. Die anderen vierzehn sprachen sie in diesem Punkt frei, elf
von ihnen verurteilten sie allerdings nach anderen Anklagepunkten (s.
Kasten).
Bei drei Angeklagten führte der Freispruch in Punkt 1 dazu, daß sie
insgesamt ohne Strafe davonkamen. Die Glücklichen waren der Finanzexperte
Hjalmar Schacht, der Diplomat Franz von Papen und der Propagandist Hans
Fritzsche.
Daß es zu diesen Freisprüchen kam, beleuchtet zum einen die Auswahl der
„Hauptkriegsverbrecher“. Die Ankläger wollten der Welt die sozialen Gruppen
und politischen Cliquen präsentieren, die das NS-Regime ermöglicht hatten.
Die anschaulichsten Vertreter dieser Gruppen waren aber nicht unbedingt
diejenigen, denen man die Beteiligung an der „Nazi-Verschwörung“ am besten
nachweisen konnte. Die Freisprüche waren zum anderen also ein
rechtsstaatliches Gütezeichen.
Die Schwierigkeit der IMG- Richter, den einzelnen Angeklagten ebenso
gerecht zu werden wie ihrer historischen Aufklärungsmission, illustriert am
besten der Fall Hjalmar Schacht. Er war bis Anfang 1939 Reichsbankpräsident
und fungierte zeitweilig als Wirtschaftsminister und Generalstabschef der
NS-Rüstungswirtschaft.
Das 69jährige „Finanzgenie“ sah sich auf der Nürnberger Anklagebank
gesellschaftlich, moralisch und intellektuell unter seiner Würde plaziert.
Zu Anfang glaubte er, er sei nur angeklagt, damit man mit seinem Freispruch
einen fairen Prozeß simulieren könne. Das war ein Irrtum. Hauptankläger
Jackson wollte „Hitlers Finanzgenie“ unbedingt die Beteiligung an der
Nazi-Verschwörung und der Vorbereitung des Angriffskriegs nachweisen. Aber
Schacht hatte seine Machtstellung schon vor Kriegsbeginn verloren. Und nach
dem 20. Juli 1944 hatte ihn die Gestapo verhaftet und ins KZ gesteckt.
Ob Schacht zu den aktiven Widerstandskreisen gehörte, ist umstritten.
Ulrich von Hassell notiert über Schacht 1941 in sein Tagebuch: „Wenn Hitler
ihn zu nehmen wüßte, würde er sich ihm immer noch zur Verfügung stellen, es
sei denn, daß er das Schiff für hoffnungslos leck ansieht.“
Schachts hatte einen irreparablen politischen Haltungsschaden, weil er
unerschütterlich an seine Unentbehrlichkeit für alle Regierenden glaubte.
Der britische Hauptankläger Shawcross schreibt in seinen Memoiren: „Während
des Prozesses wandte Schacht sich von seinen Mitangeklagten demonstrativ
ab. Als man den Film über die Konzentrationslager zeigte, saß er mit dem
Rücken zur Leinwand. Exakt diese Haltung (...) muß er eingenommen haben,
als er so erfolgreich die deutsche Wirtschaft organisierte.“
Ohne diese Leistung wäre Nazi- Deutschland nicht kriegsbereit gewesen. Aber
um Schacht zu verurteilen, mußte man ihm das Wissen um Hitlers Kriegspläne
nachweisen. Dazu meinte der Angeklagte: „Ich habe doch nicht gewußt, daß
Herr Hitler die Armee brauchen wird, um irgendwelche Bedrohungen von
fremden Nationen auszuführen.“ So absurd das klang, zu widerlegen war es
nicht.
Schachts Freispruch war jedoch als vernichtendes Urteil formuliert: Der
Angeklagte sei „mit seiner gründlichen Kenntnis der deutschen Finanzen in
einer besonders günstigen Lage (gewesen), um die Bedeutung von Hitlers
wahnsinniger Aufrüstung zu verstehen und zu erkennen, daß die verfolgte
Wirtschaftspolitik nur mit dem Krieg als Endziel vereinbar war.“
Das „Finanzgenie“ Schacht kam nur deshalb frei, weil man ihn nicht wegen
politischer Dummheit ins Gefängnis stecken konnte. In Nürnberg hatte er im
Ernst erklärt, er habe seinen Führer bis 1938 für einen Pazifisten
gehalten. Als der Mitangeklagte Ribbentrop vor Gericht den Zweiten
Weltkriegs als Betriebsunfall dartun wollte, flüsterte Schacht dem
Gerichtspsychologen Gilbert ins Ohr: „Man sollte Ribbentrop wegen Dummheit
hängen. Es gibt kein größeres Verbrechen.“ Der zweite Freisgesprochene war
Franz von Papen. Als Hitlers Vizekanzler war er am 30. Januar 1933 zum
Inbegriff des „Steigbügelhalters“ geworden. Die Illusion des
stockkonservativen Lagers, man werde Hitler schon zähmen, verlor er zwar
rascher als Schacht. Aber anders als Schacht blieb er mit seinem
elastischen Gewissen bis zum Schluß als Diplomat im Dienst.
Aber auch von Papen wäre nur zu verurteilen gewesen, wenn er an der
„Verschwörung zum Angriffskrieg“ mitgewirkt hätte. Das hatte er natürlich
nicht. Dennoch wollten ihn der französische und der sowjetische Richter als
eine „Kreatur von üblem Einfluß“ verurteilt sehen. Der Amerikaner und der
Brite meinten dagegen, mit von Papens Freispruch könne man beweisen, „daß
wir hier nicht als rachsüchtige Siegermächte zu Gericht sitzen“. Diese
angelsächsische Überzeugung bewirkte, daß Papen mit 2:2 Richterstimmen
freigesprochen wurde.
Hans Fritzsche, bis Kriegsende Leiter der Rundfunkabteilung des
Propagandaministeriums, war nur auf die Anklagebank gekommen, weil man ihn
– nach dem Selbstmord von Goebbels – für den höchstrangigen lebenden
NS-Propagandisten hielt. Als die Ankläger entdeckten, daß Fritzsches
Vorgesetzter, Reichspressechef Otto Dietrich, gesund und munter in
amerikanischer Haft saß, war der Ersatzmann des Ersatzmannes schon so gut
wie freigesprochen. Für seine Verurteilung stimmte am Ende nur der
sowjetische Richter.
Der juristischen Brisanz des Falles wurde das Gericht damit nicht gerecht.
Fritzsche war auch der „Kriegsverbrechen“ und „Verbrechen gegen die
Menschlichkeit“ angeklagt. Dahinter stand die Frage, ob Propaganda ebenso
kriminell sein könne wie die propagierte Tat. Das Gericht ersparte sich die
Antwort durch den Befund, daß Fritzsches Durchhaltepropaganda und
antisemitischen Sprüche keineswegs „das deutsche Volk aufhetzen sollten,
Greueltaten zu begehen (...).“
So milde konnten es die Richter nur formulieren, weil sie die öffentliche
Drohung nicht kannten, die Fritzsche 1940 an den französischen
Innenminister Mandel adressiert hatte: „Mandel weiß, daß eine Beendigung
dieses Krieges ohne einen Sieg Frankreichs für ihn und seine Rassengenossen
die Vernichtung bedeutet.“ Das Wort allein hätte die Richter vielleicht
nicht umgestimmt. Aber sie hätten dem Angeklagten auch nicht abgenommen, er
habe von der Verfolgung der Juden so wenig gewußt „wie die vielen, vielen
anderen Deutschen, von denen die Anklage sagt, sie hätten das, was geschah,
erkennen können aus rauchenden Schornsteinen in Konzentrationslagern oder
aus dem bloßen Anblick von Häftlingen usw.“.
Die Nürnberger Ankläger registrierten die Freisprüche verbittert. Auch
viele deutsche Antifaschisten konnten die Freisprüche nicht nachvollziehen.
Ihre Reaktion war verständlich und dennoch verkehrt. Die Urteile gingen
rechtsstaatlich in Ordnung. In Nürnberg wurde nicht über die historische
Verantwortung für die NS-Diktatur geurteilt. Zu Recht meinte Rebecca West,
die über die Diskussionen der Richter aus erster Hand informiert war, zum
Freispruch für die Steigbügelhalter Schacht und von Papen: „Die zwei alten
Füchse waren wieder mal entkommen (...), und es war absolut richtig, daß
sie freigesprochen wurden. Man hätte sie nur erwischen können, wenn man das
Gesetz über Gebühr gebeugt hätte. Und es ist allemal besser, man läßt die
Füchse entkommen, und das Gesetz bleibt dafür ungebeugt.“
Hjalmar Schacht, Franz von Papen und Hans Fritzsche wurden nach ihrer
Entlassung von deutschen Gerichten wegen ihrer Rolle in der NS-Diktatur zu
längeren Gefängnisstrafen verurteilt. Alle drei wurden schon nach kurzer
Zeit begnadigt. Und alle drei hatten den Drang, sich öffentlich zu
rechtfertigen.
Ihre Freisprüche verdankten sie den rechtsstaatlichen Prinzipien, deren
Abschaffung sie als große Errungenschaft gefeiert hatten. Aber sie nahmen
es nicht mit stiller Dankbarkeit hin, sie mußten laut und besserwisserisch
verkünden, daß sie auch „vor der Geschichte“ freigesprochen seien.
Der historische Moralist Robert H. Taylor sagte in seinem Plädoyer vor den
Nürnberger Urteilen: „Diese Männer zerstörten die freie Regierung in
Deutschland und flehen nun, man möge sie nicht verantwortlich machen, weil
sie Sklaven gewesen seien. Sie erinnern an den Romanhelden, der Vater und
Mutter ermordet hat und anschließend um Gnade bittet, weil er zum Waisen
geworden ist.“ Diese Aussage wurde durch die Freisprüche nicht entwertet.
Und sie gilt nicht nur für die entwischten Füchse, sondern auch für die
vielen Mitläufer, die sich nie verantworten mußten, nicht einmal vor ihrem
eigenen Gewissen.
27 Sep 1996
## AUTOREN
Niels Kadritzke
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