# taz.de -- ■ Die Rote Armee Fraktion erteilt dem Aussteigerprgramm wie der… | |
Es ist mittlerweile hinreichend bekannt, daß Christoph Seidler nie in der | |
RAF gekämpft hat. Weiterhin wird der ehemalige Verfassungsschutz-Spitzel | |
Siegfried Nonne als Zeuge des Staatsschutzes geführt. Alle Welt weiß, daß | |
der gesamte Komplex Nonne eine Erfindung deutscher Geheimdienste ist. Er | |
selbst berichtete vor Jahren in einer Fernsehsendung, daß er vom VS unter | |
Druck gesetzt wurde, die Aussagen als die seinigen zu bestätigen. Der | |
Bruder des Siegfried Nonne, Hugo Föller, lebte genau in der Zeit, in der C. | |
Seidler und andere dort gelebt hätten, in derselben Bad Homburger Wohnung. | |
Er hat damals dem BKA gegenüber ausgesagt, daß außer ihm und Nonne dort | |
niemand weiteres lebte – auch keine angeblichen Militanten der RAF. | |
Mysteriöserweise verstarb der Bruder völlig unerwartet, kurz nachdem er | |
seine Aussagen beim BKA gemacht hatte. Trotz seiner Aussage wurde er | |
praktisch nicht mehr erwähnt. | |
Der Verdacht liegt auf der Hand, daß deutsche Staatsschutzbehörden etwas | |
mit dem Tod des Bruders von Nonne zu tun haben. | |
Aussteigerprogramm und Kronzeugenregelung sind zwei Seiten einer Medaille. | |
Illegale oder Gefangene sollen dazu gebracht werden, sich zum Werkzeug des | |
Staatsschutzes zu machen und so nicht nur ihre GenossInnen, sondern auch | |
ihre eigene Geschichte zu verraten. In diesem Sinn zielt das | |
Aussteigerprogramm auf „die prinzipielle Denunziation linker militanter | |
Politik“. Die Ehemaligen, die in den 80ern in der DDR im Exil lebten, haben | |
zum größten Teil ein trauriges Beispiel dafür gegeben, was dieses Programm | |
ist. Gebrochene frühere Linke hingen der Bundesanwaltschaft an den Lippen | |
und diktierten ihnen, was diese hören wollten. So kamen die erneuten | |
Verurteilungen von Sieglinde Hofmann, Christian Klar, Rolf-Clemens Wagner | |
und Heidi Schulz zustande. | |
Bei Christoph Seidler liegen die Dinge natürlich anders als bei den | |
früheren RAF-Militanten, die später in der DDR lebten. Wir wissen natürlich | |
nicht, was er alles ausgesagt hat. Aus der RAF konnte er nicht aussteigen, | |
weil er dort nie war. Das „Programm“, auf das er sich eingelassen hat, ist | |
infolgedessen auch ein ganz anderes – im Konkreten jedenfalls. Wir sehen | |
auch, daß er sich in einer schwierigen Situation befunden hat, in der er | |
sich auf das Prozedere der Gegenseite einläßt oder hätte bleiben müssen, wo | |
er war; obwohl er mit dem, weswegen er gesucht wurde, nichts zu tun hat, | |
und auch sonst zur Zeit offensichtlich nur wenig Bezug zum revolutionären | |
Kampf hat. Einfach „in Ordnung“ ist das trotzdem nicht. Immerhin hat er auf | |
jeden Fall Informationen über sein Exil preisgegeben und deutsche | |
Geheimdienste dort hingeschickt, wo er solidarisch aufgenommen wurde und | |
viele Jahre Schutz erhalten hat. | |
Vom Standpunkt der radikalen Linken gibt es unseres Erachtens momentan | |
keine gute Lösung für solch eine problematische Situation. Wir haben keine | |
Antwort auf die Fragen, die sich in diesem Zusammenhang ergeben. Es gibt in | |
den derzeitigen Verhältnissen nur einen wirklich korrekten Weg: Die Linke | |
müßte sich ihre illegal und oftmals im Exil lebenden GenossInnen, die aus | |
den letzten 25 Jahren Kampfgeschichte der Linken kommen, zurückkämpfen – | |
sofern diese das wollen. | |
Angesichts des Epochenbruchs auch für die Geschichte der Linken wäre heute | |
dafür der richtige Zeitpunkt. Das aber läßt das gegenwärtige | |
Kräfteverhältnis nicht zu. Wenn wir sagen, wir haben deswegen keine Antwort | |
auf die Frage, wie damit umzugehen ist, heißt das trotzdem: Aussagen über | |
illegale Strukturen und geheime Orte des Exils sind und bleiben absolut | |
abzulehnen. | |
Die Blüten, die das Einlassen auf VS-Programme treibt, sind richtig | |
sichtbar geworden, in dem eine Genossin, die früher selbst in der RAF | |
gekämpft hat, über Christoph Seidler und weitere GenossInnen Aussagen | |
gemacht hat (taz, 4.11. 96). Konkret ist es zwar richtig, daß es | |
verschiedene „Fälle“ der Linken gegeben hat, die aus verschiedensten | |
Gründen in die Illegalität mußten (nicht unbedingt wegen dem Vorwurf, in | |
der RAF organisiert zu sein. Das ist kein Kriterium für uns, ob wir | |
jemandem helfen oder nicht). Manche konnten sich nicht vorstellen, sich | |
illegal in der BRD zu organisieren. Solchen haben wir immer geholfen, wenn | |
es erwünscht war, und wir das konnten. | |
Allerdings ist das nichts, worüber es etwas mit dem Staatsschutz zu | |
besprechen gäbe. Die Aussagen von Eva Haule, die sie im Zusammenhang des | |
Aussteigerprogramms gegenüber den Bullen gemacht hat, sind ein absoluter | |
Hammer. Zum Teil entlasten sie noch nicht mal Christoph Seidler, sondern | |
haben mit dessen Rückkehr nichts zu tun. Kriterien und Bewußtsein sind | |
verloren gegangen. Es fehlt an Distanz zu solchen „Programmen“. Was nicht | |
heißt, daß diese nicht wieder zurückerobert werden könnten. Wir wollen die | |
Probleme aber nicht individualisieren und auf niemandem rumhacken. Es ist | |
nicht nur ein Problem im Zerfallsprozeß unseres gesamten ehemaligen | |
politischen Zusammenhangs, sondern eines der Linken. Es ist sicher kein | |
Zufall, daß ausgerechnet in den letzten Jahren verschiedentlich offen | |
wurde, daß erhaltenswerte Grundsätze bezüglich des Verhältnisses zu | |
Aussagen und unnötigem Gerede flöten gegangen sind. Für viele ist nicht nur | |
eine Epoche zu Ende, sondern manch eine/r findet sich auch ganz persönlich | |
nicht mehr wieder im radikalen Kampf gegen das System und/oder in illegalen | |
Strukturen der Linken. Es sollte aber niemand vergessen, daß mit der | |
eigenen Entscheidung andere nicht zum Objekt gemacht werden können. Die | |
Entscheidung von einzelnen führt weder dazu, daß der revolutionäre Kampf | |
gleich ganz abgeblasen wird – noch dazu, daß in der zukünftigen Linken | |
nicht wieder illegale Kampfstrukturen gebraucht werden. | |
Es bleibt für alle Zeiten dabei – Zerfallsprozesse hin oder her. Keine | |
Aussagen über bestehende illegale (oder legale) Strukturen! Keine Aussagen | |
über geheime Exil-Orte und Strukturen! | |
Zurück zum Staat: Die ganze Geschichte rückt verschiedene Dinge ans Licht. | |
Verfolgungen und eventuelle Verurteilungen von Illegalen und Legalen, ohne | |
daß der Staatsschutz irgend etwas in der Hand hat, sind absolut üblich – | |
wie eben auch gegen Christoph Seidler. Sie gaben vor, alles über ihn zu | |
wissen – außer, wo er sich aufhält. Die Wirklichkeit hatte mit den | |
Staatsschutzbehauptungen nichts zu tun. Sie konstruieren eine künstliche | |
Wirklichkeit in der bewußten Täuschung der Öffentlichkeit. | |
Sie wissen nicht viel über uns. Sie haben noch nie wirklich durchgeblickt, | |
wie unsere Strukturen aussehen oder wer in der RAF organisiert ist. Wenn | |
der Staatsschutz das Gegenteil behauptet, kann getrost davon ausgegangen | |
werden, daß er täuscht. Das mindestens ist ja wohl ausreichend bewiesen mit | |
dieser Geschichte. BKA-Fahndungsplakate sind keine „Mitgliedslisten“ der | |
RAF. Selbst die Tatsache, daß der VS- Spitzel Steinmetz sich mit welchen | |
von uns treffen konnte, hat sie nicht dazu befähigt, uns zu zerschlagen. | |
Wir wollen an dieser Stelle auch etwas zu den Staatsschutz-Märchen im | |
Zusammenhang der Aktion des Kommandos Katharina Hammerschmidt in | |
Weiterstadt sagen. Sie behaupten, Steinmetz sei daran beteiligt gewesen. | |
Natürlich wissen sie genauso wie wir, daß es sich auch hierbei um eine | |
Erfindung staatlicher Organe der BRD handelt. Der Haftbefehl gegen einen | |
ihrer Zuträger ist absolut lächerlich. Und natürlich gibt es keine Behörde | |
der BRD, die ihn ernstlich kriminalisieren will. | |
Wir denken, daß es für diese Lüge zwei Gründe gibt. 1) die Aktion wurde von | |
außergewöhnlich vielen Leuten gut gefunden. Auch über die Linke hinaus | |
wurde dieser militanten Aktion mit Sympathie begegnet. Sie wurde von vielen | |
als sinnvoll erachtet, was heutzutage keine Selbstverständlichkeit mehr | |
ist. | |
Deswegen möchten die Geheimdienste genau diese Aktion denunzieren. Wer | |
würde es nicht als Dreck empfinden, wenn so eine Aktion, die als Ablehnung | |
herrschender Gewaltverhältnisse und bewußte Auflehnung gegen die | |
herrschende Ordnung daherkam, in Wirklichkeit eine Geheimdienstoperation | |
gewesen wäre. | |
2) Sie erfinden die Beteiligung ihres Spitzels, um uferlose | |
Kriminalisierungen zusammenkonstruieren zu können. Verunsichert sein sollen | |
alle, die irgendwann auch nur in der Nähe von Steinmetz gewesen sind. | |
Sie behaupten, daß Legale den Sprengstoff in einem Motorradkoffer mit einem | |
Motorrad für uns transportiert hätten. Das ist so unwahr wie unrealistisch. | |
Die Tatsache, daß unser Kommando gut eine Tonne Sprengstoff in Weiterstadt | |
benutzte – was heute eigentlich uninteressant ist – zeigt aber, wie absurd | |
diese Geschichte ist. Natürlich weiß der Staat, daß die von ihnen | |
angegebene wesentlich geringere Menge Quatsch ist. Aber selbst, um diese zu | |
transportieren, würde uns was Besseres einfallen als „Szene“-Motorräder zu | |
benutzen. | |
Die Überlegung, der Staatsschutzapparat bräuchte die RAF oder ähnliche | |
Gruppen, um seine Existenz zu begründen, nimmt die rassistische Entwicklung | |
nicht ausreichend wahr. Zudem stellt es unsere gesamte Kampfgeschichte und | |
die aller bewaffnet kämpfenden Gruppen der BRD-Linken auf den Kopf. Dabei | |
wird negiert, daß es immer eine ganz bewußte Entscheidung von jeder/m von | |
uns gewesen ist, sich einer der bewaffnet kämpfenden Organisationen | |
anzuschließen und deren Politik weiterzuentwickeln. Es gibt darin keine | |
Zwangsläufigkeit, die Politik als Reflex auf die Eskalationen des | |
Imperialismus einzuengen. Wo das passierte, waren es selbst zu | |
verantwortende Fehler. Der subjektive Aufbruch ist hier ein entscheidendes | |
Moment unseres Kampfes gewesen. Die Entscheidung ist immer mit Hoffnungen | |
und der Vorstellung verbunden gewesen, im gemeinsamen weltweiten Kampf um | |
Befreiung ein herrschaftsfreies Leben erkämpfen zu können. Unseren Kampf | |
heute zum Objekt des Staates umzudeuten heißt, sich der eigenen Geschichte | |
zu berauben. Daraus können keine Erkenntnisse für die Zukunft gezogen | |
werden. | |
Das System braucht nicht die RAF, sondern den Polizeistaat – als | |
Umgehensweise mit den Widersprüchen, die das System selbst produziert. Das | |
ist ihre gesellschaftliche Vision. Egal ob Gruppen wie die RAF existieren | |
oder nicht. | |
Die Auseinandersetzung um die Geschichte der Linken macht für uns nur einen | |
Sinn, wenn sie zur Neubestimmung revolutionärer Politik und Neuformierung | |
einer radikalen Linken beiträgt. Nur von da aus wird es möglich sein, | |
systemüberwindende Visionen in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen | |
zu tragen. Hierzu wird es keine „Signale der Politik“ von staatlicher Seite | |
geben. Diese peitscht zugunsten der Entwicklung des Kapitals nach außen | |
imperialistische Großmachtpolitik und nach innen eine neue Gesellschaft | |
durch. Das ist ihre Konsequenz aus der Krise des kapitalistischen Systems | |
und der Versuch, daraus als politische und ökonomische Macht gestärkt | |
hervorzugehen. Deshalb das Rollback dessen, was innerhalb des Kapitalismus | |
an sozialen Rechten in der Metropole durchgesetzt werden konnte. Armut und | |
Ausgrenzung werden in ganz anderem Ausmaß Bestandteil der | |
gesellschaftlichen Realität in der Metropole sein. Staatlicher und | |
gesellschaftlicher Rassismus gehören zu den am meisten bestimmenden | |
Erscheinungen des Lebens in Deutschland. | |
Es gibt keine Berührungspunkte zwischen denen, die das verantworten und den | |
Auseinandersetzungen, die auf unserer Seite notwendig sind, um im Prozeß | |
der sozialen Revolution das alles hinwegzufegen. | |
Rote Armee Fraktion | |
29.11. 1996 | |
5 Dec 1996 | |
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