# taz.de -- ■ Eine Jahrhundertflut ist immer am schlimmsten, wenn sich das … | |
## Gegen Oder und Staat | |
Eine Jahrhundertflut beginnt sehr gemütlich. Man sitzt am Ufer der Oder auf | |
der Terrasse der Stammkneipe, trinkt sein „Piast“-Bier und beobachtet, wie | |
das Wasser friedlich steigt. Von der Treppe der Kaimauer sind nach dem | |
ersten Bier noch fünf Stufen zu sehen, nach dem zweiten noch vier, nach dem | |
dritten noch zwei ... Eine Jahrhundertflut kommt so beschaulich daher, daß | |
Marian Dymalski und die meisten Breslauer bis zum Schluß nicht einmal die | |
Möglichkeit nasser Füße ernsthaft in Betracht zogen. „Bis wir dann alle in | |
einem Boot saßen“, sagt er, ohne daß ihn diese Metapher sonderlich | |
aufheitern würde. Er hat seit diesem 13. Juli, als die Oder Polens | |
viertgrößte Stadt in einen gigantischen Swimmingpool verwandelte, selten | |
mehr als vier Stunden pro Nacht geschlafen. | |
Seitdem weiß er, daß Strommasten schwimmen können, Autos nicht. Daß rote | |
Fahnen auf Dächern und in Fenstern keine politische Weltanschauung | |
signalisieren, sondern die dringende Bitte, evakuiert zu werden. Daß | |
vollgesogenes Holzparkett die Konturen einer Achterbahn annimmt und Wasser | |
stärker als Beton ist. In der nagelneuen Tennishalle, die zum Sport- und | |
Jugendzentrum des polnischen Hochschulsport-Verbandes gehört, dessen | |
Vizepräsident Marian Dymalski ist, hat die Flut den Betonboden | |
durchbrochen. In Dymalskis Wohnung in der Szprotawska Straße 39, | |
Plattenbau, 1. Stock, drang sie durch Fenster- und Türritzen, durch den | |
Keller. Ein paar Tage später kam er mit einem Schlauchboot vorbei, umkurvte | |
die Antennenspitze seines Autos und legte im Hausflur an. Dann watete er | |
durch das hüfthohe braune Wasser von Zimmer zu Zimmer und stellte fest, daß | |
außer den Fußballpostern seines Sohnes Konrad, die über dem Pegelstand an | |
den Wänden klebten, nicht viel zu retten war. | |
Eine Jahrhundertflut ist am schlimmsten, wenn das Wasser wieder zurückgeht. | |
Was immer der Fluß wieder hergibt, stinkt, ist verfault, vermodert und mit | |
einer grauen Schicht von Sedimenten überzogen. Breslaus Schrebergärten | |
sehen aus, als wäre ein Ascheregen über sie niedergegangen. Die | |
Philharmonie stand unter Wasser, ebenso das frisch renovierte „Teatr | |
Polski“, Krankenhäuser, Kirchen, Druckereien, Behörden, Schulen, Geschäfte, | |
Kinos, Teile des Hauptbahnhofs und das „Eroticland“ im Untergeschoß des | |
Bahnhofsvorplatzes, aus dem Feuerwehrleute gerade das Wasser abpumpen — | |
samt freischwimmender Pornohefte. | |
Auf den Hauptverkehrsstraßen, wo vor einigen Tagen noch Privatleute mit | |
ihren Segelbooten Lebensmittel und Trinkwasser an eingeschlossene Bewohner | |
austeilten, sind veritable Bodenwellen und Schlaglöcher entstanden. Ob | |
Altbau oder Plattenbau — an den Fassaden ziehen sich schnurgerade Linien | |
entlang, die anzeigen, wie hoch das Wasser in welcher Straße stand. Auf den | |
Mittelstreifen reihen sich, ordentlich aufgehäuft, die Sperrmüllberge | |
aneinander. | |
In der Szprotawska Straße 39 hat Marian Dymalski inzwischen Möbel und | |
Teppiche aus der Wohnung geschafft, den Parkettboden herausreißen und | |
Desinfektionsmittel versprühen lassen, das den Gestank von Fäkalien, Gas | |
und Abfall vertreibt. Im Kinderzimmer liegen zwischen Konrads Knieschützern | |
zwei getrocknete „Monopoly“-Scheine. Irgendwo auf dem Müllhaufen müssen | |
Fotoalben, Bücher, Briefe, CDs gelandet sein. „Ein Stück Leben ist | |
weggerissen“, sagt er und lächelt im nächsten Moment entschuldigend, als | |
wolle er niemanden mit allzu dramatischen Beschreibungen behelligen. Denn | |
eigentlich geht es ihm und seiner Familie ja noch gut. Im Unterschied zu | |
den meisten anderen Flutopfern waren Auto und Wohnung versichert. | |
Breslau räumt auf — und rekapituliert. Beim täglichen Schlangestehen vor | |
den Tankwagen, die rund 700.000 Einwohner mit Trinkwasser versorgen müssen, | |
lassen die Bürger in erstaunlich würdevollem Gleichmut Revue passieren. Da | |
waren die ersten Tage der Flut, als man faktisch ohne staatliche Hilfe | |
einen Katastrophenschutz organisierte und ein mittleres Wunder vollbrachte: | |
Die gerade restaurierte Altstadt mit ihrem Rathaus, der Bibliothek, den | |
Handwerkshäusern und Kirchen aus dem 13. und 14. Jahrhundert blieb vom | |
Wasser verschont, weil Tausende von freiwilligen Helfern tage- und | |
nächtelang Sandsackbarrikaden aufgeschichtet hatten. Da war der Besoffene | |
aus dem „Bermuda-Dreieck“, wie die Abrißhäuser der Alkoholiker und | |
Abgestürzten an der Traugutta Straße genannt werden, der sich für die | |
Fernsehkameras eine Krawatte umband und dann aus dem ersten Stock einen | |
Kopfsprung in die Fluten machte. „Zalany“, sagen die Leute, was im | |
polnischen zweierlei heißt: „betrunken“ und „überflutet“. Da waren | |
Spekulanten, die mit Lebensmitteln und Trinkwasser ein Geschäft machen | |
wollten, aber schnell von der Bevölkerung boykottiert wurden. Da ist der | |
Erzbischof, der gesagt haben soll, die Flut sei Gottes Strafe für das neue | |
liberalere Abtreibungsrecht. Da ist der Ministerpräsident, der nach den | |
ersten Tagen der Flut erklärte, wer nicht versichert sei, habe selbst | |
Schuld. Und da ist immer wieder die Frage, ob das Desaster für die Stadt | |
gemindert oder gar verhindert worden wäre, hätte man in den Dörfern südlich | |
von Breslau die Dämme gesprengt. | |
20 Kilometer vor Breslau bestellt Ryszard Pokutycki in der Dorfkneipe „Ewa“ | |
sein Mittagsbier, um die Stimmbänder ein wenig zu ölen. Mit seiner | |
Baseballmütze, den Stiefeln, den Tarnhosen und der ungebremsten Wut auf den | |
Staat wirkt er wie das polnische Pendant zu jenen amerikanischen | |
Bürgermilizionären, die sich mit Waffenarsenalen auf die Invasion schwarzer | |
Regierungshubschrauber vorbereiten. Allerdings gibt es zwei kleine | |
Unterschiede: Erstens fuchtelt der Autolackierer aus Kamieniec Wroclawksi | |
nicht mit Gewehren herum, zweitens haben in seinem Dorf die Hubschrauber | |
wirklich angegriffen. „Uns wollten sie absaufen lassen, um ihre Ärsche zu | |
retten“, krächzt er. Nach zwei Wochen Dauereinsatz gegen den Fluß, das | |
Militär und die Polizei ist er stockheiser. | |
Niemand weiß bis heute genau, wer auf die Idee kam, zum vermeintlichen | |
Schutz der Stadt ein paar Dörfer zu fluten. Jedenfalls sahen die Einwohner | |
von Kaminieniec Wroclawksi, Lany und Jeszkowice in den Morgenstunden des | |
13. Juli plötzlich Polizei auf den Dorfstraßen, die über Megaphon zur | |
Evakuierung aufriefen, weil die Oder in den nächsten Stunden unweigerlich | |
die Dörfer überschwemmen würde. Bloß hatten die Bewohner das Hochwasser | |
längst vor der Haustür und waren ohne Hilfe irgendwelcher Behörden in den | |
Tagen und Nächten zuvor damit fertig geworden. | |
„Die Bauern“, erzählt Pokutycki, „haben Sandsäcke organisiert, und alle | |
haben ununterbrochen geschaufelt und gestapelt, um die Deiche zu | |
verstärken.“ Die polizeiliche Fürsorge war schnell durchschaut, als über | |
CB-Funk aus Jezkowice gemeldet wurde, daß Militär angerückt sei, um die | |
Dämme zu sprengen. Binnen weniger Minuten waren die Dörfler auf ihren | |
Deichen — und weder unter Androhung polizeilicher Prügel noch mit dem | |
Versprechen finanzieller Entschädigung wegzubewegen. | |
Ein Hubschrauber setzte immer wieder zu Tiefflügen an und warf Tränengas | |
ab. „Und wir“, sagt Pokutycki, „haben uns unter die Starkstromleitung | |
gestellt. Da hat er uns nicht gekriegt.“ Ein, zwei Sprengladungen | |
explodierten tatsächlich, doch die Bewohner stopften die Löcher sofort mit | |
Sandsäcken wieder zu. Nach einem kurzen Krieg um die Deiche zogen Armee und | |
Polizei unverrichteter Dinge wieder ab. Seitdem kampieren die Leute von | |
Lany, Jezkowice und Kamieniec Wroclawski draußen, verständigen sich über | |
Funk und mit Feuersirenen, falls ein zweiter Angriff kommen sollte. | |
Die Konsequenzen dieses Einsatzes hätten einige Tage später beinahe ein | |
paar Soldaten aus Stettin ausbaden müssen, die abkommandiert worden waren, | |
der Dorfbevölkerung gegen die zweite Flutwelle zu helfen. Die Leute | |
empfingen die Uniformierten mit Steinen in der Hand, was letztere | |
unverzüglich zum Rückzug veranlaßte. „Am besten, uns hilft niemand“, | |
schnaubt Pokutycki. „Dann werden wir mit allen Problemen am besten fertig.“ | |
Daß man sie in der Stadt und in einigen Medien bereits zu Treibgut und zu | |
hilfsbedürftigen Flutopfern erklärt hat, wurmt ihn ungemein. Schließlich | |
seien sie doch das „eindrucksvollste Beispiel“, wie man sich ohne Staat und | |
Regierung, ja sogar gegen Staat und die Regierung, vor dem Hochwasser | |
schützen kann. | |
Darüber sind sich Städter wie Dorfbewohner einig: Polens zentralistische | |
Strukturen wurden schnell zum Bestandteil der Katastrophe, vor der der | |
Staat seine Bürger schützen sollte. Das vorläufige Fazit der | |
Jahrhundertflut in Polen: 55 Tote, rund 500.000 Hektar Land und 976 Orte | |
unter Wasser; eine Armee, die viel zu spät und zu spärlich eingesetzt | |
wurde; Sandsäcke und Wasserpumpen, deren Lieferung man in Warschau | |
erbetteln mußte. Dazu kommen Sünden aus alten sozialistischen Zeiten: Die | |
Plattenbausiedlung im Breslauer Stadtteil Kozanow zum Beispiel, die bis zu | |
zwei Meter unter Wasser stand, hätte nie so dicht am Oder-Ufer gebaut | |
werden dürfen. Über das finanzielle Ausmaß der Schäden in der Stadt kann | |
seitens der Behörden derzeit niemand eine Auskunft geben. Auf die Frage | |
nach Angaben in Mark, Dollars oder Zloty bekommt man nur ratlose Gesichter | |
zu sehen, als ob man eine Zahl mit so vielen Stellen erst noch erfinden | |
müßte. Immerhin: Die Straßenbahnen und Busse fahren wieder, Strom, Telefon | |
und Müllabfuhr funktionieren wieder — und in der Altstadt trinkt man Bier | |
aus Plastikbechern, solange kein Wasser zum Abwaschen da ist. | |
In den Dörfern, die beim Kampf gegen die Flut nicht so erfolgreich waren | |
wie Kamieniec Wroclawksi, ist von einer solchen Normalisierung nichts zu | |
merken. Da hat die Flut Hauswände aufgerissen, das Vieh ertränkt, die Ernte | |
vernichtet. In Siechnice, rund 15 Kilometer von Breslau entfernt, steht das | |
Wasser seit zwei Wochen. Aus den braunen Fluten der Oder ist längst eine | |
stinkende, giftige grün- schwarze Brühe geworden, die Keller, Gärten, | |
Wohnungen und Wiesen füllt. Wütend über ausbleibende Hilfe bauten die | |
Bewohner am Donnerstag Barrikaden aus brennenden Reifen auf der Straße | |
zwischen Breslau und Oppeln. Versichert ist hier keiner — und mit den | |
umgerechnet 1.600 Mark, die die Regierung allen Hochwasseropfern auszahlen | |
will, kann man an Neuanfang nicht denken. | |
Während dessen zieht die zweite Flutwelle durch die Dörfer und die Stadt. | |
Bislang hat sie kaum weiteren Schaden angerichtet, doch für großen Jubel | |
sind die Leute mittlerweile zu müde. Für Panikgefühle auch. Einzig in | |
Kamieniec Wroclawski kann man sich den Tag nach der Jahrhundertflut | |
vorstellen. „Wir machen ein Riesenfest“, sagt Ryszard Pokutycki. „Es gibt | |
Tanz auf dem Deich.“ | |
28 Jul 1997 | |
## AUTOREN | |
Andrea Böhm | |
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