| # taz.de -- London, eine Projektionsfläche | |
| > Zwischen Vorbereitungen zur Jahrtausendfeier und dem Referendum über eine | |
| > neue gesamtstädtische Verwaltung sucht die britische Hauptstadt ihre | |
| > Identität ■ Aus London Dominic Johnson | |
| Die Nebenstraßen sind voller Löcher und Schlamm. Wenn ein Lastwagen | |
| vorbeifährt, spritzt das Regenwasser meterhoch. Unter düsteren | |
| Gewitterwolken hängt ein penetranter süßlicher Geruch aus den Chemiewerken | |
| neben der Stadtautobahn. Ohrenbetäubender Fernverkehr donnert Richtung | |
| Themse-Tunnel. | |
| So sieht der Ort aus, an dem London in zwanzig Monaten die Jahrtausendwende | |
| feiern soll. Direkt auf dem Längengrad Null, auf einer Landzunge im Norden | |
| des Ostlondoner Stadtteils Greenwich, entsteht hier der sogenannte | |
| „Millennium Dome“, eine „Jahrtausendkuppel“, in der zu Silvester 1999 e… | |
| monströse Jahrtausendparty steigen soll. | |
| Wo noch bis vor kurzem Gasometer auf verseuchtem Industrieboden thronten, | |
| ragen jetzt zwölf turmhohe, kranartige gelbe Maste in den Himmel, | |
| kreisförmig angeordnet und symmetrisch nach außen gekippt. Zwischen den | |
| Masten ist ein komplexes Gewölbe aus Stahlseilen gespannt, und an einer | |
| Stelle hängen dazwischen schon graue Teflonschichten. „Wir hoffen, das Dach | |
| bis Ende Juni fertigzustellen“, freut sich Neil Martinson von der | |
| zuständigen Behörde „New Millennium Experience“. „Dann wird die ganze | |
| Struktur wasserdicht sein, und es wird die größte Struktur ihrer Art in der | |
| ganzen Welt!“ | |
| Noch ist die Baustelle hermetisch abgeriegelt. Wachmann Steve hat gute | |
| Gründe, schlecht gelaunt zu sein: Sechs Tage die Woche steht er von sieben | |
| bis 19 Uhr mit seinem Funkgerät in seiner zugigen Hütte; sogar seine | |
| Arbeitskleidung muß er selber kaufen. Wenn jemand zuhört, gibt er Sprüche | |
| der Zeugen Jehovas über den sicheren Weltuntergang zur Jahrtausendwende zum | |
| besten. Wenn er eine Zigarette anzünden will, steckt Steve am Heizstab | |
| seine Zeitung in Brand und benutzt sie als Fackel. „Mein Vorgänger hier hat | |
| die Bude abgebrannt“, flachst er. „Er zahlt immer noch.“ | |
| Die Idee einer gigantischen Ausstellungskuppel, in die zwölf Fußballstadien | |
| hineinpassen würden, ist noch ein Kind der konservativen Regierung John | |
| Major, scheint aber den Visionen von New Labour wie auf den Leib | |
| geschnitten. Wie bei New Labour üblich, ist die Finanzierung des 800 | |
| Millionen Pfund (2,5 Milliarden Mark) teuren Bauwerks noch nicht geklärt: | |
| Von 150 Millionen Pfund Sponsorengeldern, die die Regierung noch sucht, | |
| sind erst 58 Millionen eingetrieben. Dabei ist der offizielle | |
| Fertigstellungstermin 31. Dezember 1999 denkbar knapp. | |
| Langfristig soll der „Dome“ ein Besuchermagnet werden, wo Touristenscharen | |
| das Neueste an britischem Design bewundern. Eine U- Bahnlinie wird durch | |
| das Gelände gezogen, im Westen Londons entsteht eine Anlegestelle für | |
| Schnellboote Richtung Greenwich. Um heute schon zu sehen, was sich die | |
| Regierung unter modernem Design so vorstellt, muß man die umgekehrte | |
| Fahrtrichtung einschlagen. An einem der schönsten Plätze Londons, der | |
| Horseguards Parade mitten im Londoner Regierungsviertel Whitehall am Rand | |
| des St. James Park, präsentiert das britische Industrieministerium einen | |
| Vorgeschmack auf das, was in Greenwich noch nicht zu sehen ist. Die | |
| Ausstellung „powerhouse::uk“ ist zwischen majestätischen Prachtbauten und | |
| blühenden Bäumen in vier miteinander verbundenen, häßlichen grauen | |
| Plastikzelten angesiedelt, die aussehen wie plattgedrückte Heißluftballons. | |
| Die vier Zelte tragen die Namen „Lifestyle“, „Learning“, „Communicati… | |
| und „Networking“ und sind, so der Werbeprospekt, „Schaukästen kreativen | |
| Talents“. Durch das Zelt „Communicating“ zieht sich zum Beispiel zwischen | |
| flimmernden Bildschirmen ein endloses Fließband mit Avantgardeprodukten: | |
| Sainsbury's Orange Drink, Fuji Fresh Thick Banana Flavour Milkshake, | |
| Ochsenschwanzsuppe, Schokoladenmousse und Daz-Waschpulver, und natürlich | |
| steht irgendwo auch ein Modell des „Millennium Dome“. Ein | |
| Ausstellungsmitarbeiter erklärt zwei verwunderten Besuchern: „Dies ist | |
| alles eine komplette Repräsentation. Dies ist ein großes Bild. Man sieht | |
| viele kleine Dinge, aber das Ganze, ein großes Ding, ergibt einen Sinn.“ | |
| Nachdem er gegangen ist, fragt ein Besucher den anderen: „Was meint er denn | |
| jetzt?“ Der andere: „Na ja, daß das irgend was symbolisiert.“ | |
| Wenn „powerhouse::uk“ für irgend was Symbol steht, dann für die schon fast | |
| surreale Steigerung des höheren Unsinns, den New Labour unter dem | |
| Sammelbegriff „Cool Britannia“ als Sinnbild eines modernen Großbritanniens | |
| der Welt verkaufen will. Es ist ein Lieblingsthema der Regierung Blair, daß | |
| der Wohlstand Großbritanniens im 21. Jahrhundert von der Kreativität seiner | |
| Bevölkerung abhängen wird. Zur Eröffnung von „powerhouse::uk“ sagte John | |
| Battle, Staatssekretär im Industrie- und Handelsministerium: „Kreativität | |
| und Design sind von fundamentaler Bedeutung für die Entwicklung von | |
| Produkten und Dienstleistungen von Weltklasse, die Schlüsselelemente der | |
| Wettbewerbsfähigkeit sind.“ | |
| Nicht zufällig sind mit Whitehall und North Greenwich zwei Extrempole | |
| Londons die Schauplätze, wo solche Vorstellungen in die Praxis umgesetzt | |
| werden. London ist keine Stadt, sondern eine Projektionsfläche. Es ist eine | |
| der kosmopolitischsten Metropolen der Welt, aber zugleich ein Moloch, der | |
| nach Jahren des Wirtschaftsaufschwungs aus allen Nähten platzt und eines | |
| der extremsten sozialen Gefälle in Europa aufweist. Seit die | |
| Thatcher-Regierung 1986 die Gesamtlondoner Stadtverwaltung abschaffte, | |
| wursteln die 32 Bezirke der Stadt atomisiert vor sich hin. London als | |
| solches existiert nur virtuell. Jeder kann mit der Stadt machen, was er | |
| will. Auch – und gerade – Tony Blair. | |
| Am 7. Mai will Blair den sieben Millionen Londonern ihre Identität | |
| zurückgeben. Zeitgleich mit Kommunalwahlen findet eine Volksabstimmung über | |
| die Wiedereinführung einer Gesamtlondoner Verwaltung statt. Es soll einen | |
| 25köpfigen Rat namens „Greater Londoner Authority“ (GLA) geben, an dessen | |
| Spitze ein direkt gewählter Bürgermeister steht. Der soll Dinge wie | |
| Verkehrsplanung behandeln, die ganz London angehen, und wäre einer der | |
| wichtigsten Politiker Großbritanniens. | |
| Labour, Konservative und Liberaldemokraten sind alle dafür, mit kleinen | |
| Unterschieden. „Die Konservativen sind für den Bürgermeister und gegen den | |
| gewählten Rat, die Liberalen sind für den Rat und gegen den gewählten | |
| Bürgermeister“, erklärt ein Beobachter. Zur Grundidee aber sagen alle ja. | |
| Der Wahlkampf für die Volksabstimmung läuft also ganz ohne Parteienstreit | |
| auf vollen Touren – was heißt: Es passiert gar nichts. Öffentliche | |
| Veranstaltungen sind nicht geplant, statt dessen stellt das zuständige | |
| Umweltministerium jede Woche in ein Einkaufszentrum einen | |
| Informationsstand. | |
| Den ersten davon eröffnete London-Staatssekretär Nick Raynsford am 8. April | |
| mit der Einweihung eines Monopoly-Spielbretts, das im | |
| Whiteleys-Einkaufszentrum im mondänen Westlondoner Viertel Bayswater auf | |
| den Boden geklebt worden ist. Am Tag der Einweihung dienen die | |
| Monopoly-Felder Kindern als Spielplatz, und zwei junge Männer sitzen im | |
| Regierungsauftrag hinter einem Tisch voller Regierungsflugblätter und | |
| gucken zu. Kaum jemand will die Flugblätter haben, denn sie sind identisch | |
| mit den Wurfsendungen, die schon im März an alle drei Millionen Londoner | |
| Haushalte gegangen sind. Es gibt auch Aufkleber mit der aufregenden | |
| Aufschrift „London entscheidet: Ja oder Nein.“ | |
| Charles Abraham im zuständigen Umweltministerium gibt zu, daß das Thema | |
| „nicht viel Kontroverse“ hergibt. Das liegt auch daran, daß die Regierung | |
| Kontroversen bewußt vermeidet: „Die Regierung wird für den GLA die | |
| Staatsausgaben nicht erhöhen. Der Rat wird Haushaltsanteile der einzelnen | |
| Bezirke übernehmen, und die Zusammenlegung bestimmter Aktivitäten wird | |
| hoffentlich Einsparungen ermöglichen.“ | |
| Eine Kontroverse gibt es erst 1999, wenn tatsächlich die Wahl des Londoner | |
| Bürgermeisters ansteht. Tatsächliche oder ausgedachte Kandidaten geistern | |
| derzeit dutzendfach durch die Medien. Allen voran sind zwei, die garantiert | |
| für Polarisierung sorgen würden: Ken Livingstone, Vorsitzender des letzten | |
| Londoner Rates bis 1986, Erzfeind Margaret Thatchers und noch immer ein | |
| Aushängeschild der Labour-Linken; und Jeffrey Archer, Millionär und | |
| Bestsellerautor, kurzzeitig Geschäftsführer der Konservativen und heute | |
| Mitglied des Oberhauses. Ein Wahlkampf Livingstone gegen Archer wäre ein | |
| Wahlkampf Old Labour gegen Old Tories – für die heutigen Führungen beider | |
| Parteien ein Greuel. | |
| Ganz ungerührt haben Livingstone und Archer ihre Wahlkämpfe bereits auf | |
| eigene Faust begonnen. Der Labour-Mann will an seinen Kampf gegen Thatcher | |
| anknüpfen und droht in Interviews, „damit weiterzumachen, was ich machte, | |
| bevor ich so unsanft unterbrochen wurde“. Der Konservative hat in einem | |
| Pamphlet namens „A Better Deal for London“ dargelegt, daß die | |
| Dienstleistungen Londons miserabel sind und die Bewohner vom Reichtum ihrer | |
| Stadt nichts abbekommen. „Ein Londoner Bürgermeister sollte für | |
| Gerechtigkeit kämpfen“, schlußfolgert die Schrift. Es klingt, als habe der | |
| Tory alles von Livingstone abgeschrieben. Dabei wurde Archers Pamphlet | |
| ausgerechnet vom Thatcher- treuen Think Tank „Centre for Policy Studies“ | |
| (CPS) herausgebracht. „Wir fanden das eine lustige Idee“, rechtfertigt Tim | |
| Knox, Herausgeber der CPS-Schriften, die Veröffentlichung und stellt klar: | |
| „Es gibt keine Pläne für eine weitere Zusammenarbeit.“ | |
| Sicher werden die Parteiapparate die Höhenflüge ihrer beiden ambitionierten | |
| Einzelgänger noch rechtzeitig unterbinden und brave Kandidaten aufstellen. | |
| Aber schon der Vorgeschmack macht deutlich: London wartet nur auf eine | |
| Gelegenheit, seinen verschütteten anarchischen Eigensinn wieder | |
| auszugraben. Gerade rechtzeitig, um der seelenlosen Mischung von | |
| Wirtschaftsboom und „Cool Britannia“ etwas entgegenzusetzen. | |
| 24 Apr 1998 | |
| ## AUTOREN | |
| Dominic Johnson | |
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