| # taz.de -- Kastration als Karriereschub | |
| > ■ Von ansteckender Klarheit: Ong Keng Sens Choreographie „Descendants Of | |
| > The Eunuch Admiral“ begeistertet beim Sommertheater Festival | |
| Es gibt zwei Arten der Kastration, erklärt die Frau auf der Bühne mit | |
| klarer Stimme. Die eine ist einfach: Mit einer scharfen Rasierklinge | |
| schneidet man den Penis ab, was unerträglich schmerzhaft ist und zur | |
| sofortigen Ohnmacht, manchmal zu tagelangem Koma führt. Die andere, die | |
| ultimative Kastration, ist nicht schmerzhaft, im Gegenteil: Nach einem | |
| heißen Bad massiert das Kindermädchen die Hoden ihres Zöglings. Täglich, | |
| mit wachsendem Druck. Nach einer gewissen Zeit sind sie funktionsunfähig, | |
| ohne irgendeine äußerliche Veränderung. Der Nachteil: Ultimativ Kastrierte | |
| werden nicht wiedergeboren. Nur wer seinen „Schatz“ in einem Kästchen | |
| aufbewahrt und mit ins Grab nimmt, hat die Chance auf Reinkarnation. | |
| Zwei Arten der Kastration beschreibt die Frau, eine dritte stellt der | |
| Regisseur vor: die Selbstbeschneidung. Ong Keng Sens Inszenierung | |
| Descendants Of The Eunuch Admiral (Die Nachfahren des Eunuchen-Admirals) | |
| parallelisiert das Leben des legendären chinesischen Eunuchen Zhenghe im | |
| 15. Jahrhundert mit den Selbstverstümmelungen singapurischer Yuppies heute. | |
| Vier AnzugträgerInnen im Bann von Buchhaltungsprojektionen bekennen: | |
| „Dreaming has become the centre of my life.“ Wie isolierte Traumwandler, | |
| denen der Skeptizismus trotzdem beisteht, lassen sie sich von einem | |
| Priester mit den Riten der Vergangenheit vertraut machen. Die Geschichte | |
| Zhenghes, der sich durch Kastration das Vertrauen der Ming-Dynastie | |
| erkaufte und ihr durch die Entdeckung des Seewegs nach Indien Macht und | |
| Reichtum bescherte, wird zur Projektionsfläche des erträumten Ichs: | |
| Karriere erfordert Verzicht. | |
| Theatreworks arbeitet mit reduzierten, äußerst klaren Bildern, die an | |
| keiner Stelle das Geschehen zu illustrieren suchen. Im Gegenteil: Keng Sen, | |
| der nichts mehr verabscheut als „den Zuschauer nicht mehr atmen zu lassen“, | |
| arbeitet mit dominanter Lichtregie, einem präsenten Soundtrack von Meredith | |
| Monk bis Faures Requiem und repetitiven Bewegungsabläufen, die in keinem | |
| ersichtlichen Zusammenhang mit dem Vorgetragenen stehen. Höhepunkt ist eine | |
| siebenminütige Szene, in der sich Janice Koh dreihundertmal um die eigene | |
| Achse dreht und dabei ohne Pause von Zhenghes Reisen spricht. | |
| Keng Sens New-York-Aufenthalt und Vertrautheit mit westlicher Avantgarde | |
| ist nicht zu übersehen, doch schützt ihn die offensive Integration | |
| östlicher Tradition vor Eklektizismus. Descendants überzeugt durch | |
| ansteckende Klarheit – als hätte jemand stellvertretend geniest, so daß man | |
| wieder frei atmen kann. Christiane Kühl | |
| 24 Aug 1998 | |
| ## AUTOREN | |
| Christiane Kühl | |
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