# taz.de -- Fanatismus des Abstrakten | |
> Ian Kershaw hat eine materialreiche Hitler-Biographie vorgelegt, | |
> scheitert aber, wie die anderen Biographen, an dem Unterfangen, das Böse | |
> intellektuell zu erfassen ■ Von Annette Jander | |
Hitler-Biographien kranken an ihrem Subjekt. Der Mensch Hitler gibt nicht | |
viel her. Schon Joachim Fest äußerte sich 1973 fast resigniert: „Über weite | |
Strecken verflüchtigt sich... die ohnehin schwer greifbare Person dieses | |
Mannes und widersetzt sich dem biographischen Zugriff.“ | |
Vielleicht ist es Adolf Hitlers letzter und größter Triumph, daß sich sein | |
Innenleben bis heute dem öffentlichen Blick entzieht. Seit 1989 arbeitet | |
Ian Kershaw an dem zweibändig angelegten Werk, von dem jetzt der erste Band | |
erschienen ist, der den Zeitraum 1889 bis 1936 umfaßt. Eine neue, große | |
Hitler-Biographie, die mit Spannung erwartet wurde. Weit mehr als 100.000 | |
Bücher existieren über das Dritte Reich, aber „nur eine Handvoll | |
ausführlicher, ernstzunehmender wissenschaftlicher Biographien des | |
NS-Führers“. Diese Vorgabe erfüllt das Buch des renommierten englischen | |
Historikers ohne Zweifel. Kershaw beruft sich auf die Werke seines | |
Landsmanns Alan Bullock und auf Joachim Fest, die sich intensiv mit der | |
Persönlichkeitsstruktur Hitlers auseinandergesetzt haben. Er versteht sich | |
jedoch nicht als Biograph im Sinne derer, die den Menschen Hitler ergründen | |
wollen, um den Holocaust zu erklären. Ein Schlüsselerlebnis in Hitlers | |
Leben, das den grenzenlosen Haß, der in der Vernichtung mündet, verursacht, | |
kann er nicht finden. Er unternimmt auch nicht den Versuch, Hitler als | |
isolierte Persönlichkeit zu untersuchen oder als machtbesessenen | |
Psychopathen zu betrachten wie Bullock in seinen frühen Arbeiten (die er | |
später revidierte). Er verläßt sich auf die Analyse einer Epoche, darauf, | |
daß die Weltgeschichte ohne Hitler zweifellos anders verlaufen wäre und er | |
deshalb nur in den Zusammenhängen betrachtet werden kann. Als Kenner der | |
Sozialgeschichte des Dritten Reiches, der sich aber bereits in kürzeren | |
Arbeiten mit Hitler auseinandergesetzt hat, bleibt er seiner | |
intentionalistischen Linie treu und zeigt, daß Hitler seit 1919 die | |
„Vernichtung des Judentums“ als festen Bestandteil in seinen Reden führte, | |
noch vor der Verknüpfung mit dem Bolschewismus. Er mißt ihn an seinen Reden | |
und nimmt ihn als „politisches Genie“, wie Goebbels es ausdrückt, ernst. | |
Den „Mythos Hitler“ hat Kershaw bereits in einer Studie, die 1980 | |
Aufmerksamkeit erregte, abgehandelt. Leider ergibt die nun vorliegende, | |
nüchterne Annäherung an Hitler auch ein mitunter langweiliges Buch. | |
Stilistische Brillanz, die Fests Annäherung an die „Unperson“ Hitler | |
auszeichnet, hat hier keinen Platz. Aber Kershaw ergänzt Fests Standardwerk | |
von 1973 um ein erweitertes und in Teilen intensiveres Quellenstudium. Was | |
über Hitlers Vita bekannt und verbürgt ist, können wir hier nachlesen. | |
Nach dem frühen Tod des Vaters wächst Adolf Hitler mit seiner kleinen | |
Schwester Paula bei der Mutter in der Provinz auf. In der Schule versagt | |
er. Was überrascht, ist der 18jährige Adolf, der seine Mutter kurz vor | |
ihrem Krebstod pflegt und den Verlust schwer verwindet. Er geht nach Wien. | |
Nach der zweimaligen Ablehnung durch die Kunstakademie wird Hitler, der aus | |
kleinbürgerlichen Verhältnissen kommt, ein sozialer Absteiger: möblierte | |
Zimmer, schließlich das Obdachlosenasyl und dann Jahre im Männerheim. Er | |
malt Postkarten ab, um existieren zu können, aber bald schon hält er | |
flammende Reden im Männerheim – auch über das „verderbliche Judentum“. … | |
echte Gespräche läßt sich Hitler selten ein, seine politischen Meinungen | |
sind angelesen. Seine „Gesprächspartner“, von den Bewohnern des Männerhei… | |
bis zu den ausländischen Botschaftern in Berlin, berichten einmütig von den | |
stundenlangen Monologen Hitlers. Seine Zuhörer haben sich jedoch keineswegs | |
immer gelangweilt, und sein Aufstieg zum „Führer“ liegt in seiner | |
unermüdlichen Redekunst und seiner Bereitschaft, sich dabei völlig zu | |
verausgaben, begründet. Er mag den größten Teil seines Lebens als Redner | |
verbracht haben. | |
1914 verläßt Hitler Wien und geht nach München. Der Ausbruch des Ersten | |
Weltkriegs ist ein Glücksfall für ihn. Obwohl er Österreicher ist, tritt er | |
sofort ins bayerische Heer ein, wird Meldegänger, bekommt zweimal das | |
Eiserne Kreuz verliehen und lebt mit seinem Hund Foxl beim Regiment, das | |
ihm Familie und Lebenszweck wird. Am Ende des Krieges findet sich Hitler | |
nach einem Gasangriff vorübergehend erblindet und traumatisiert von der | |
unerwarteten Niederlage wieder – ein weiterer Wendepunkt. Aber der Zeit im | |
Lazarett in Pasewalk kann Kershaw nicht viel Interessantes abgewinnen. | |
Zuviel ist ihm da von anderen hineininterpretiert worden. | |
Da um Hitler bereits zu Lebzeiten mehr spekuliert als gewußt wurde, ist | |
Kershaw auch in der Auswahl und der Bewertung der Quellen, vor allem bei | |
Zeitzeugen, oft skeptisch. Die vor 1945 verfaßten Berichte orientieren sich | |
vornehmlich an Hitlers Version der Ereignisse, wie sie in „Mein Kampf“ | |
dargelegt und oft geschönt wurden. Kershaw liefert hier eine in sich | |
lesenswerte Interpretation von Hitlers Manifest. Die nach 1945 verfaßten | |
Berichte oder Interviews sind wiederum oft apologetischer Natur und | |
verraten mehr über die Augenzeugen als über Hitler. Das gleiche gilt für | |
die Tagebücher und Notizen von Joseph Goebbels, die zwar authentisch und | |
ausführlich sind und eine von Kershaw häufig zitierte Quelle, aber | |
allenfalls ein Beweis für Goebbels' neurotische Hitler- Anbetung. Der sich | |
wie ein enttäuschter Liebhaber gebärdende Goebbels ist fast schon komisch, | |
aber auch typisch für viele Deutsche, die nach Hitlers Charisma lechzten. | |
1926 schreibt er nach einem Redeauftritt Hitlers: „Wohl eine der größten | |
Enttäuschungen meines Lebens. Ich glaube nicht mehr restlos an Hitler. Das | |
ist das Furchtbare: Mir ist der innere Halt genommen.“ Und kurz darauf: | |
„Ich glaube, er hat mich wie keinen in sein Herz geschlossen. Adolf Hitler, | |
ich liebe Dich, weil Du groß und einfach zugleich bist. Das, was man Genie | |
nennt.“ | |
Politisches Gespür bescheinigt ihm Kershaw durchweg. Rückschläge wie den | |
gescheiterten Putschversuch 1923 wandelt Hitler in Erfolge um. Der Prozeß, | |
in dem Hitler unbegreiflich viel Gelegenheit zu politischen Reden und | |
Rechtfertigung gegeben wird, und die anschließende Festungshaft von nur 13 | |
Monaten betrachtet Kershaw – wie andere vor ihm – als den eigentlichen | |
Wendepunkt im Leben Hitlers. Er liefert eine detaillierte Analyse des | |
Prozesses. Kershaw resümiert trocken: „Hitlers Machtübernahme war | |
keinesfalls unvermeidlich, war kein Naturereignis... Sein Aufstieg hätte | |
schon lange vor dem Schlußakt Januar 1933 gestoppt werden müssen. Es gab | |
einige Gelegenheiten, doch die beste ging vorüber, als die Justiz es nach | |
dem Putsch vom November 1923 versäumte, Hitler jahrelang hinter Gitter zu | |
bringen, und dieser Unterlassung ein weiteres Versäumnis hinzufügte, als | |
sie ihn im Dezember 1924 auf Bewährung entließ und ihm einen Neuanfang | |
ermöglichte. Doch diese Fehlkalkulationen... waren keine zufälligen | |
Entscheidungen, denn sie gingen von einer politischen Klasse aus, deren | |
Entschlossenheit, die neue, verhaßte, höchstens geduldete demokratische | |
Republik anzugreifen... ihrem Zerstörungstrieb folgte und die nicht etwa | |
voller Eifer Hitler den gewundenen Weg ins Kanzleramt bahnte.“ | |
1931 erschießt sich Hitlers Nichte Geli Raubal mit seiner Pistole, um sich | |
seiner Herrschsucht und Eifersucht zu entziehen. Die gescheiterte | |
Liebesbeziehung, deren Natur im unklaren bleibt, ist der zweite große | |
Fehlschlag im Leben Hitlers, den er romantisch verklärend in eine totale | |
Hinwendung zu Deutschland ummünzt. Der Skandal versandet, da Hitler zur | |
Zeit des Selbstmordes auf Redetour war, und ab da kennt Hitler nur noch | |
eine Geliebte: Deutschland. | |
Kershaw zeichnet ein umfassendes Bild von Hitlers Umgebung, die ihm seinen | |
Glauben an sich gegeben und konsequent aufrechterhalten hat. Hitler hat es | |
immer verstanden, seinen Untergebenen klarzumachen, was in seinem Sinne | |
getan werden sollte. „Dem Führer zuarbeiten“ ist das zentrale Kapitel von | |
Kershaws „Hitler“ und richtungsweisend für den zweiten Teil der Biographie, | |
der September 1999 erscheinen soll. Nach dem Tod von Geli Raubal ist Hitler | |
ein Mann völlig ohne innere Bindungen, ohne erkennbare Laster im üblichen | |
Sinn, dessen Triebfeder der fanatische Glaube an etwas Abstraktes ist: an | |
seine Bedeutung für Deutschland, an die Bedeutung Deutschlands für Europa | |
und – vor allem – an die Rolle des Judentums als Symbol für alles | |
Schlechte. Hitler hatte ein sehr gutes Gedächtnis, eine schnelle | |
Auffassungsgabe, schauspielerisches Talent und eine Neigung zur Hybris. | |
Letztere brachte ihn immer wieder dazu, alles auf eine Karte zu setzen, und | |
je öfter er gewann, desto höher wurden die Einsätze. 1923, 1933 und | |
schließlich 1936 mit dem Einmarsch ins entmilitarisierte Rheinland riskiert | |
Hitler alles und kommt damit durch, der Einmarsch wird geduldet. Kershaw | |
macht deutlich, daß Hitler zu stoppen war, daß er Angst hatte zu verlieren. | |
Nur, keiner setzte ihm ernsthaft Widerstand entgegen. | |
„Nicht jeder von euch sieht mich, und nicht jeden von euch sehe ich. Aber | |
ich fühle euch, und ihr fühlt mich! Es ist der Glaube an unser Volk, der | |
uns kleine Menschen groß gemacht hat... Nun sind wir beisammen, sind bei | |
ihm und er bei uns, und wir sind jetzt Deutschland!“ Dieses | |
nationalsozialistische Vaterunser rief Hitler seinen Anhängern auf dem | |
„Parteitag der Ehre“ in Nürnberg 1936 entgegen. Es ist eine realistische | |
Einschätzung seiner Macht zu diesem Zeitpunkt. Kershaw findet in Hitler bis | |
1936 einen Politiker mit einem fanatischen Rassenhaß, aber das Böse hat | |
seinen Auftritt hier noch nicht. Die faszinierende Frage nach der Natur des | |
Bösen versucht der amerikanische Journalist Ron Rosenbaum in seinem soeben | |
auf englisch erschienenen Buch „Explaining Hitler. The Search for the | |
Origins of Evil“ zu beantworten. Die Kommentare der Zeitzeugen, die | |
Rosenbaum befragt hat, lassen aber eher die Hilflosigkeit erkennen, die | |
auch die Biographen Hitlers plagt: Das Böse ist nicht intellektuell zu | |
erfahren. | |
Auch wenn Kershaws „Hitler“ keine Diskussionen entfachen wird und die Leser | |
immer etwas Unbestimmtes entbehren läßt, ist es lesenswert in seiner | |
distanzierten Darstellung dessen, was wir heute über Hitlers Leben mit | |
einiger Bestimmtheit sagen können. | |
Ian Kershaw; „Hitler 1889–1936“. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1998, | |
972 S., 88 DM | |
28 Dec 1998 | |
## AUTOREN | |
Annette Jander | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |