# taz.de -- Ein Ball, ein Chef, ein Kaiser | |
> Fritz Walter, Uwe Seeler, Helmut Schön, Berti Vogts? Vergeßt sie. Der | |
> deutsche Fußball nach dem Zweiten Weltkrieg wurde bestimmt von zwei | |
> Allmächtigen. Der eine bereitete dem anderen den Weg – mit dem Gewinn der | |
> WM 1954 und der Gründung der Bundesliga. Um den anderen herum entwickelte | |
> sich das Spiel zu jener Branche, die sie heute ist. Der eine Allmächtige | |
> ist Josef Herberger, der andere natürlich Franz Beckenbauer. Teil XIX der | |
> Serie „50 Jahre neues Deutschland“ ■ von Peter Unfried | |
Manchmal sitze ich in einem Stuhl und habe meine Tochter auf dem Arm. Und | |
sie wird und wird einfach nicht müde. Dann höre ich zu, wie sie | |
geheimnisvolle Laute aneinanderreiht. Manchmal könnte ich schwören, sie | |
habe eben „Horstdieterhöttges“ gesagt. Oder „Erwinkremers“. Da werden … | |
sicher verstehen, daß ich es kaum erwarten kann, bis ich ihr erzählen kann, | |
wie alles wirklich war mit dem deutschen Fußball. | |
Ich: Also hör mal zu. | |
Sie: Oh no, kommt jetzt die ganze Scheiße mit 54 und wir sind wieder wer | |
und dem dritten Tor von Wembley, und wie Helmut Schön 1974 nach Sparwassers | |
Tor magenkrank wurde, und Uli Hoeneß in Belgrad 1976 seinen Elfer vergeigte | |
usw. usf.? | |
Aber selbstverständlich nicht, sage ich dann. Wenn du ganz fest die Augen | |
aufmachst und an den deutschen Fußball nach 1945 denkst, dann wirst du bloß | |
zwei Männer sehen. Beide waren erst DFB-Nationalspieler, später – Trainer. | |
Der erste hat den zweiten möglich gemacht und damit die deutsche | |
Fußballbranche, wie sie heute ist. | |
Jetzt schaut sie fragend. | |
Der eine ist 1,65 m, der andere 1,81 m. Siehst du sie? – Nein, sagt sie. | |
Gut, antworte ich. Der eine kommt ursprünglich aus Mannheim-Waldhof, der | |
andere aus München-Giesing, beides Arbeitermilieu. Der eine kommt wirklich | |
von ganz unten, der andere aus einer Postlerdynastie. Der eine war der | |
Chef, der andere der Kaiser. Der eine ist Josef Herberger, der andere | |
natürlich Franz Anton Beckenbauer. | |
Und die Grundgebühr ist auch schon dabei, wird meine Tochter an dieser | |
Stelle sagen. | |
Jetzt werde ich lächeln. Genau. Der Beckenbauer ist natürlich unsterblich, | |
werde ich dann sagen, aber falls doch nicht, würde man ihn exklusiv | |
begraben, Pay per View. Und den Zweitrechten für das Free TV bei RTL und | |
das Pay TV bei Premiere, den Printrechten bei Springer usw. Aber weißt du, | |
wie man den Herberger begraben hat? | |
Weiß sie natürlich nicht. | |
Im Trainingsanzug des DFB. Das war konsequent. Und sagt alles über | |
Herberger. Es war Herberger, damals Hitlers Reichstrainer, der 1939 statt | |
der niveauverwässernden Gauligen eine Reichsliga einführen wollte. | |
Die Tochter: Eine Europaliga? | |
Ich ignoriere das. Während die Welt erst unterging und dann wiederaufgebaut | |
wurde, saß Herberger in seinem Zimmer und kritzelte ungefragt immer neue | |
Aufstellungen in sein Notizbuch. Nach dem WM-Sieg in Bern 1954 | |
(Wankdorfstadion!) war der deutsche Fußball dann total Herberger. Sein Wort | |
war Gesetz. Herberger wollte die Bundesliga in erster Linie, um das | |
DFB-Team zu stärken. Und nachdem er bei der WM 1962 einen rückständigen | |
und, viel schlimmer: nicht erfolgreichen Riegelfußball spielen ließ, mußte | |
der mauernde DFB-Bundestag sie 1963 doch einführen. | |
Ein Jahr später ging Herberger. Noch ein Jahr weiter lief Beckenbauer in | |
die Bundesliga ein und ein paar Wochen später hinter Uwe Seeler ins | |
Rasundastadion von Stockholm. | |
Tochter: Uwe wer? | |
Ich: Uwe Niemand. Du mußt in größeren Zusammenhängen denken, Tochter. Wenn | |
du das tust, ist seit jenem WM-Qualifikationsspiel Beckenbauer. Mit ihm und | |
um ihn herum entwickelte sich alles zu dem, was du heute siehst. Sein | |
Geplauder ist Gesetz. | |
Die Tochter: Was ist der Unterschied zwischen den beiden? | |
Der Unterschied ist der zwischen 1954 und 2000: Herberger arbeitete | |
allmächtig für sich, den Verband, das Spiel Fußball und ein bißchen für | |
Adidas; Beckenbauers Allmacht nutzen die beiden deutschen | |
Fernsehmarktgiganten Bertelsmann und Kirch sowie Springer, Adidas, Bayern | |
München und andere zur Erschließung und Sicherung des Marktes Fußball und | |
seiner Kundschaft. | |
Was war das Besondere an dem Fußballer Beckenbauer? – könnte meine Tochter | |
jetzt fragen (Sie kennt ja nur den Fernseh-Journalisten/-Präsidenten). | |
Beckenbauer, Tochter, war der erste Deutsche, der die deutschen Prinzipien | |
von Arbeitsteilung, von vorne und hinten aufhob. Aber nur für sich selbst. | |
International war das im Sommer 1968, als er in Rio gegen Brasilien statt | |
Willi Schulz in der Abwehr spielte und statt stupide reagierend | |
auszuputzen, plötzlich einen kreativen Libero gab. | |
Beckenbauer war schön anzusehen. Er war aber beileibe kein „Schönspieler“. | |
Solche waren 1954 die Ungarn, 1974 die Niederländer, und in den achtziger | |
Jahren in zwei WM-Halbfinales die Franzosen. Schöner Fußball und Verlierer | |
waren (die Brasilianer mal ausgenommen) Synomyme. Deutschland und Gewinner | |
auch. Helmut Schöns Siebziger-Jahre-Team eröffnete sich allerdings eine | |
ästhetische Dimension. Es gewann dafür nicht die WM, sondern, nach einer | |
personellen Änderung (der Gladbacher Netzer für den Kölner Overath) und | |
einer Teilung der Macht zwischen Beckenbauer und Netzer, bloß eine | |
Marginalie – die EM 1972. Es war aber wieder total Bekkenbauer, was 1974 | |
(wie auch 1990) den Titel brachte – also eine Mischung aus Klasse, | |
Pragmatismus, Siegesbereitschaft und viel Glück. | |
1990 ist insofern eine Ausnahme, als daß im fünften WM-Finale das von | |
Bekkenbauer trainierte DFB-Team beim 1:0 gegen Argentinien erstmals | |
tatsächlich – wenn man das so sagen kann – besser als der Gegner war – | |
allerdings den Sieg wie schon 1974 durch Betrug realisierte. | |
Die Tochter: Betrug? | |
Die Elfmeterschinder Bernd Hölzenbein und Rudolf Völler, sage ich, stehen | |
als „Schlitzohren“ noch heute in besonders hohem Ansehen. | |
Haben die Trainer Herberger und Bekkenbauer den Fußball modernisiert? | |
Hm. Herberger, Jahrgang 1897 und geprägt vom Kaiserreich, und Beckenbauer, | |
Jahrgang 1945 und geprägt von der Nachkriegszeit, blieben beide trotz | |
Entwicklung ihres Selbstbewußtseins bestimmt von einer autoritären Kindheit | |
und Jugend. Von vorsichtiger Einstellung zum Leben, außerhalb und innerhalb | |
des Spiels auf eine hierarchische Ordnung fixiert. Herbergers Fußball war | |
noch 1962 völlig auf Fritz Walter zugeschnitten – obwohl der gar nicht mehr | |
mitspielte. | |
Und Beckenbauer ließ im WM-Finale 1986 mit sieben Verteidigern mauern. Im | |
Duell Mann gegen Mann war der Deutsche immer Weltmeister. | |
Als das die anderen noch mitmachten, war die deutsche Welt auch in Ordnung. | |
Walter und Beckenbauer dirigierten, Liebrich und Schwarzenbeck putzten, | |
Eckel und Hoeneß rannten, Schäfer und Grabowski flankten, Rahn und Müller | |
machten ihn rein. | |
Tochter: Und warum ist der deutsche Verbandsfußball heute nicht mehr | |
wettbewerbsfähig? | |
Fußball entwickelt sich prozeßhaft. Die Deutschen haben bei einer WM immer | |
dann nicht mindestens das Halbfinale erreicht (Ausnahme 1994), wenn sich | |
personell-kreative Defizite, spieltaktische Rückständigkeit und ein | |
ausgebrannter Trainer addierten. Das war 1962 so, 1978 und 1998. | |
Heute ist die Arbeitsteilung fast komplett aufgehoben und die Hierarchie | |
flach. Die fürs Laufen zuständige Fachkraft muß genauso Eigeninitiative | |
entwickeln, wie die kreative Führungskraft zum Wohle des Teams dienen | |
können muß. Die zwei Spitzenteams der Bundesliga haben das in diesem Jahr | |
langsam auch begriffen – der DFB noch nicht. | |
Die EM 1996 hat Vogts noch gewonnen, müßte meine Tochter jetzt natürlich | |
einwenden. | |
Tja, Tochter: Die EM 1996 wurde von der Enge der Räume dominiert. Das | |
DFB-Team gewann, weil ihm ein singuläres hochmodernes Mittel namens | |
Matthias Sammer zur Verfügung stand, diese Enge zu überwinden. Die WM 1998 | |
brachte dann neben der längst etablierten Viererkette den Durchbruch des | |
schnellen Kurzpaßspiels zur Überwindung der Enge. Als einer der wenigen | |
arbeitete der DFB trotzig weiter mit Libero und dem Flugball und erreichte | |
damit ... Nichts? | |
Nein: das Viertelfinale, was ein bemerkenswerter Erfolg war. Damals schon | |
und erst recht von heute aus betrachtet. | |
So werde ich verstummen und nur hoffen können, daß meine Tochter nicht | |
plötzlich so was fragt wie: Und wer war Hans-Jürgen Kreische (Dynamo | |
Dresden)? Oder – noch schlimmer: Wie konntest du und deine Generation | |
zulassen, daß Beckenbauers Thronfolger als Allmächtiger in seine Position | |
kam? | |
Ich habe mich auf diese Situation vorbereitet, und dennoch wird meine | |
Stimme wahrscheinlich zittern, wenn ich sagen muß: Es gab eine Zeit, | |
Tochter, da schien allein die Idee absurd. Aber diese gewissenhaft | |
profitorientierten Menschen in den Konzernen, die ihn positioniert haben, | |
waren einfach klüger als wir. Und sie wußten, was sie wollten. | |
Meine Tochter wird sich das rechte Auge reiben. Dann wird sie mürrisch | |
fragen: Willst du mir etwa erzählen, daß das die ganze historische Wahrheit | |
über Lothar Matthäus ist? Und (skeptisch): War das alles wirklich so? Dann | |
werde ich sie zum Bett rübertragen, ihr so liebevoll wie möglich ihr blödes | |
Bayern München-Bettzeug an den Hals ziehen und sagen: Tochter, so war das | |
natürlich nicht. | |
Jetzt schläfst du mal schön, und morgen abend erzähle ich dir dann, wie es | |
wirklich auch nicht war. Dann wird kein Leo Kirch vorkommen. Bloß Gerd | |
Müller. Und Guido Buchwald. Und viel mehr Netzer. Und natürlich ein ganz, | |
ganz wichtiger Fußballer, den man aber heute aus bestimmten Gründen ins | |
Vergessen gedrängt hat. | |
Die Augen meiner Tochter sind schon halb geschlossen. | |
Sein Name, flüstere ich noch schnell, war Jürgen Klinsmann. | |
Peter Unfried, 35, trat 1972 in den SSV Stimpfach ein. Dort war er Kapitän | |
der E-, D-, C-, B- und A-Jugend sowie der 1. Mannschaft. Als | |
taz-Leibesübungenredakteur berichtete er von der EM 1996 und der WM 1998 | |
29 May 1999 | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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