# taz.de -- Leben mit Aids in der Kirche | |
> Die Berliner Verein „Kirche positHIV“ bietet die bundesweit einzige | |
> christlich-ökumenische Selbsthilfegruppe für Aids-Infizierte und deren | |
> Freunde ■ Von Philipp Gessler | |
Lebmal“, schlägt Pater Norbert vor. Denn der Name „Denkmal“, wie | |
ursprünglich geplant, fällt aus. Den gibt es schon sechsmal in Berlin – | |
aber „Lebmal e. V.“ finden die meisten in der Runde nur lächerlich. Es geht | |
darum, wie der Zweigverein heißen soll, der sich um die Restaurierung einer | |
alten Friedhofsgruft kümmern soll. Die soll zukünftig an die Aids-Toten der | |
Stadt erinnern. „Memory“ schlägt jemand vor. Erinnert zu sehr an das | |
Kinderspiel. „Rote Schleife“. Nein, zu unkonkret. „Rufe sanft e. V.“, w… | |
jemand ein. Im allgemeinen Lachen fällt der Entschluss, noch mal darüber | |
nachzudenken. | |
Über Aids und den Tod zu lachen, dazu hat die heitere Runde im | |
holzvertäfelten Dachzimmer einer evangelischen Gemeinde am Charlottenburger | |
Lietzensee mitten in der Hauptstadt alles Recht. Denn wer hierher kommt, | |
ist selber Aids-infiziert, war schon erkrankt oder hat Freunde oder Partner | |
an der Immunschwächekrankheit sterben sehen. „Kirche PositHIV“ nennt sich | |
der Verein, in dem sie alle aktiv sind. | |
Es ist bundesweit die einzige Organisation dieser Art: kirchlich und strikt | |
ökumenisch. Eine evangelische Pfarrerin und ein katholischer Priester haben | |
die Gruppe 1993 ins Leben gerufen. „Deine Güte ist besser als das Leben“, | |
liest jemand aus dem Psalm 63 vor. Es ist, als habe jedes Wort, das in | |
dieser Runde um Kerzen und einen roten Weihnachtsstern in der Mitte fällt, | |
einen doppelten Boden. | |
Kirche PositHIV“, so betont Pastorin Dorothea Strauß, will kein Angebot | |
sein, mit dem sich eine scheinbar „gesunde Kirche“ von oben herab um die | |
armen Kranken kümmert. Es ist vielmehr eine Vereinigung von Männern und | |
Frauen, die, direkt oder indirekt konfrontiert mit der tödlichen Krankheit, | |
eine Anbindung an die Kirche, einen gemeinschaftlich gelebten Glauben | |
suchen oder, ganz ohne christliche Motive oder Hintergrund, Solidarität und | |
Nähe suchen. Kein „Barmherzigkeits-Terrorismus“ also, wie Strauß betont �… | |
ein himmelweiter Unterschied zu Konzepten, die Aids-Infizierte oder -Kranke | |
als Objekte von Betreuung begreifen. | |
Der Pastorin kam die Idee für diese Gruppe, nachdem sie miterleben musste, | |
wie fast ihr ganzer Freundeskreis, „acht, zehn Leute“ an Aids starben – | |
darunter auch ein Pfarrer und ein Kirchenmusiker. „Pech“ nennt sie das | |
trocken, „das ging zupp, zupp, zupp so.“ Viele scheinen in der Gruppe in | |
Sarkasmus zu fliehen, wenn der Schmerz allzu groß wird. | |
Gemeinsame Gottesdienste, Reisen, ein Stammtisch und die Arbeit an einem | |
Gedenkbuch gehören zu den Angeboten des Vereins. Über zwanzig ehrenamtliche | |
Helfer sind bei „Kirche PostHIV“ aktiv, es sind vor allem schwule Männer | |
zwischen 27 und 53 Jahren. „Hier gibt es keine armen, pflegebedürftigen | |
Opfer, sondern Menschen, die mit HIV und Aids leben und ihren Platz in der | |
Kirche fordern“, betont Pastorin Strauß. Die 39-jährige ist zugleich | |
Aids-Beauftragte der evangelischen Landeskirche. Sie arbeitet auf einer | |
halben Stelle, die durch Kollekten, Spenden und Mitteln des katholischen | |
Franziskanerordens finanziert wird. | |
Einer ihrer ehrenamtlichen Helfern ist Hinrich Tholema. Er ist 42 Jahre | |
alt, sieht aus wie Anfang 30, ist blond, hat rötliche Haut und ein | |
bezauberndes Lachen. Der ehemalige Reiseverkehrskaufmann ist Rentner – er | |
hat sich 1989 von seinem im selben Jahr verstorbenen Freund mit dem | |
Aids-Virus infiziert. Seit 1992 nimmt er Medikamente. Er hatte alle | |
opportunistischen Krankheiten, die durch die Immunschwäche erst ausbrechen | |
können, erzählt er. Dreimal war Hinrich schon klinisch tot, sechs Wochen im | |
Koma – ein Arzt kommentierte seinen Lebensmut mit dem Satz: Es sei schon | |
beinahe „unverschämt“, dem Tod dauernd von der Schippe zu springen. | |
Durch die neue Arznei-Kombinations-Therapie aber fühlt er sich jetzt | |
gesund, vor allem kann er wieder aus dem Haus, ist nicht mehr über Monate | |
ans Bett gefesselt. Wäre da nicht der Stock, den er zum Gehen braucht, man | |
hielte ihn für das blühende Leben. | |
Monika dagegen wirkt schwächer – sie war wochenlang nicht in der Gruppe: | |
„Mir geht es jetzt wieder besser“, erzählt sie in der Runde, nur müde sei | |
sie noch. Aber sie wolle sich jetzt „am Riemen reißen“. Die 42-Jährige war | |
früher Krankenschwester und ist ebenfalls berentet. | |
Ihren Nachnamen will sie nicht nennen. Sie befürchtet, ihre Tochter könnte | |
in der Schule schief angeschaut werden, wenn in der Zeitung stünde, dass | |
sie aidskrank ist. Monika hat früher gefixt –- infiziert aber habe sie sich | |
in der Drogentherapie, erzählt sie, als sie mit ihrem späteren Freund | |
schlief. Das war 1983. Seit 13 Jahren nimmt sie Medikamente. | |
Der von einigen Ärzten stillschweigend empfohlene Cannabis-Konsum, heißt es | |
in der Runde, hilft vielen, Hunger zu kriegen, mehr zu essen und wieder auf | |
die Beine zu kommen. Doch auch mit den neuesten Medikamenten ist das Leben | |
von den meisten Erkrankten stark eingeschränkt – die Kombinationstherapie | |
bei den Medikamenten hat den Nachteil, dass viele unter Durchfall leiden: | |
Opiumtropfen versuchen ihn einzudämmen. | |
Monika und Hinrich kommen aus christlich geprägten Familien, verloren aber | |
im Laufe der Jahre den Kontakt zur Kirche. Monika wurde schon von guten | |
Christen wegen ihrer Krankheit als „Sünderin“ abqualiziert. Bei Jesuiten in | |
Berlin aber fand sie in den vergangenen Jahren Arbeit, einen Job an der | |
Pforte der Ordenskommunität. Hinrich hat schlimme Erfahrung mit der Kirche | |
gemacht – wegen seiner Homosexualität, wegen seiner Aids-Infizierung, die | |
manche Gläubige als „Strafe Gottes“ begriffen. | |
Dennoch sagt Hinrich, er fühle sich aufgehoben bei „Kirche PositHIV“. Die | |
Bibel werde einem nicht dauernd vorgehalten, hier könne auch ein Atheist | |
herkommen. Der Glaube habe ihm aber sehr geholfen – gerade in der | |
Anfangszeit, als er lernen musste, mit seiner Aids-Infizierung umzugehen, | |
und er sich die Frage stellte: „Warum muss ausgerechnet mir das passieren?“ | |
Denn: „Nach so einer Diagnose glaubst du an gar nichts mehr.“ | |
In homosexuellen Kreisen, erzählt Hinrich, rede man eher über Sex als über | |
die Kirche. Die sei beinahe tabu. Allerdings beteten manche für sich zu | |
Hause, sagt Monika. Für beide ist der Glaube eine Stütze – aber sehr viel | |
darüber reden wollen sie eigentlich nicht: Über ihren Glauben zu reden sei | |
„fast intimer“ als über ihre Krankheit zu sprechen. | |
Pater Norbert Plogmann räumt ein, dass gerade in der katholischen Kirche in | |
den ersten Jahren des weltweiten Ausbruchs der Krankheit „Widerstände“ | |
überwunden werden mussten. Zwar wurde in offiziellen Stellungnahmen immer | |
zu Akzeptanz und Hilfe für Aids-Infizierte und -Kranke aufgerufen, und der | |
Papst besuchte demonstrativ Aidskranke – in fundamentalistischen Kreisen | |
aber habe es den Spruch von Aids als „Strafe Gottes“ durchaus gegeben, | |
erklärt der Franziskaner. Die katholische Kirche sei in Sachen | |
Homosexualität wie die Gesellschaft insgesamt „auf dem Weg“, ihre Position | |
zu überdenken. Es sei jedoch noch ein „vorsichtiges Vortasten“. | |
Zwar will er sein Engagement nicht als „Pionierarbeit“ begriffen sehen. | |
Allerdings sei es es eine Arbeit, die stark beachtet werde, auch von der | |
Öffentlichkeit. Die Bistumsleitung „bejaht“ sein Engagement, sagt Pater | |
Norbert fein, sein Orden habe es „gewollt“. | |
Nach Pater Norberts Eindruck sind viele Infizierte oder Kranke auf einer | |
„starken spirituellen Suche“. Und das, obwohl es bei nicht wenigen im | |
Umgang mit der Kirche zu „Gebrochenheiten“ gekommen sei – etwa weil | |
Geistliche ihnen in ihren Nöten nicht zugehört hätten.Dies habe zu Distanz | |
zur Institution Kirche geführt – „aber damit kriegen Sie Ihre spirituellen | |
Fragen und nicht die Frage nach Gott beantwortet“. | |
Manche in der Gruppe sagen, erst durch „Kirche PositHIV“ hätten sie wieder | |
zur Kirche zurückgefunden – und ohne die Gruppe „hätte ich nicht bis heute | |
überlebt“, sagt ein 43-Jähriger. „Ja, du wurdest meine Hilfe“, heißt e… | |
Psalm 63, „jubeln kann ich im Schatten deiner Flügel.“ Es wird viel gelacht | |
an diesem Abend. | |
29 Dec 1999 | |
## AUTOREN | |
Philipp Gessler | |
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