# taz.de -- Überwachen und Schlafen | |
> Kunst für Detektive: Ihre Retrospektive im Museum Fridericianum, Kassel, | |
> zeigt, wie sich die französische Künstlerin Sophie Calle mit der | |
> Fiktionalität von Biografien auseinander setzt | |
von MARTIN PESCH | |
Wie im restlichen Leben gibt es auch in der Kunst drei Arten von Projekten: | |
die wirklich abgeschlossenen, die irgendwann aufgegebenen und jene, die | |
Werkcharakter annehmen. Sie streben keiner Erledigung zu, sondern weichen | |
ihr im Gegenteil aus, sie nehmen Umwege und sind doch an einem Leitmotiv | |
orientiert und gelangen so zu einer Reflexion über das projektierte | |
Vorhaben. Was also hat Sophie Calle vor? Ihre einzelnen Arbeiten, die jetzt | |
in der Kasseler Ausstellung zum ersten Mal in Deutschland im Zusammenhang | |
gezeigt werden, sind Teile eines Identitätspuzzles. | |
Wer die Retrospektive der 1953 geborenen Französin besucht, sollte viel | |
Zeit haben. Es gibt mehr zu lesen als zu gucken. Mal so durchschlendern, um | |
einen Eindruck des Werks zu bekommen, ist hier nicht. Stattdessen steht man | |
vor zum großen Teil ästhetisch nicht gerade aufregenden Fotografien und | |
muss sich in die begleitenden Texte vertiefen – nur so fügen sich die | |
unschmucken Dokumentationen zu einem überraschend kohärenten künstlerischen | |
Projekt. Aus Calles Beobachtungen und Beschreibungen, ihren Erinnerungen | |
und Kommentaren kristallisiert sich der Versuch heraus, das eigene Leben zu | |
erzählen – auch wenn oder gerade weil sie dabei andere Menschen, ihr | |
vollkommen fremde Personen, ins Visier nimmt. | |
Am Anfang mag es einen profanen Grund dafür gegeben haben. Nach ihrem | |
Studium machte sich Sophie Calle zu einer Weltreise auf und kam nach sieben | |
Jahren nach Paris zurück, um festzustellen, wie fremd ihr die Stadt und die | |
Menschen geworden waren. So geht sie los als Fremde in ihrer Heimatstadt, | |
ohne soziale Kontakte, und beobachtet und verfolgt andere Menschen, | |
versucht mit ihnen ins Gespräch zu kommen, sie kennen zu lernen, um sich so | |
allmählich heimischer zu fühlen, ein Netz persönlicher Kontake zu weben. | |
Sie bevorzugt dabei den detektivischen Blick, das formale Interview, bleibt | |
gerne inkognito. | |
1979 macht Calle sich auf die Suche nach Menschen, die in ihrer Wohnung | |
schlafen möchten. Zehn Tage lang geben sich Schläfer die Klinke in die | |
Hand. Sie stellt allen dieselben Fragen, notiert sich die Antworten und die | |
darüber hinaus gehende Unterhaltung. Man erfährt, was jeweils zum Frühstück | |
gewünscht wird und wie die Begegnungen beim Schichtwechsel ablaufen. Calle | |
fotografiert ihre Gäste während ihres Besuchs und schreibt unter die Fotos | |
die genaue Uhrzeit. „Die Schläfer“ bestehen aus insgesamt 176 Fotografien | |
und 24 Texten; der Wortlaut der Unterhaltungen ist in einer Broschüre | |
nachzulesen, die auf einem vor der Fotowand stehenden Tisch ausliegt. | |
Nichts wird darüber bekannt, ob Calle mit einer der vorgestellten Personen | |
in Kontakt geblieben ist. Die Distanz wird vergößert durch den Berg des | |
Dokumentarmaterials. Fotos und Texte türmen sich zwischen ihr und den | |
Menschen auf, die zu ihr kamen, und zwischen denen, die sich diese Arbeit | |
anschauen und durchlesen. So entsteht das, was die | |
Literaturwissenschaftlerin Susanna Egan in ihrer Studie über Autobiografien | |
„mirror talk“ nennt. Sophie Calle inszeniert solche Spiegelgespräche, um | |
autobiografische Diamanten aus dem biografischen Erz zu gewinnen. Im | |
Spiegel des anderen und der Vorführung ihrer eigenen Reaktionen ergibt sich | |
die Sophie Calle, die sich selbst näher kommen möchte. | |
Das gilt auch für ihre zwei bekanntesten Arbeiten. Ihre „Suite Vénitienne“ | |
(1980) beschreibt die Verfolgung eines Mannes, den sie flüchtig in Paris | |
kennen gelernt hat und dem sie bei einem Venedig-Besuch nachreist. Beim | |
„Mann mit dem Adressbuch“ (1983) spannt sie ein Netz von Äußerungen und | |
Kommentaren um einen Mann auf, dessen Adressbuch sie gefunden hat. Sie | |
kontaktiert die darin enthaltenen Personen, um mehr über ihn zu erfahren. | |
Die Dokumentation dieser Begegnungen und Gespräche werden in einer | |
Artikelserie in der französichen Zeitung Libération veröffentlicht. | |
Die Beharrlichkeit, mit der Calle ihre Recherchen gegen die | |
Big-Brother-Vorwürfe betreibt, setzt sie in Selbstkommentaren immer wieder | |
dem Verdacht des naiven Ich-kann-nicht-anders aus. Dahinter steckt | |
allerdings die Überzeugung, dass sie nur in der Auseinandersetzung mit den | |
Geschichten anderer Menschen zu ihrer eigenen kommen kann. | |
In „Der Schatten“ (1981) bittet sie ihre Mutter, einen Detektiv damit zu | |
beauftragen, sie einen Tag zu beschatten. Die Arbeit besteht aus den Fotos | |
des Detektivs, seinen Aufzeichnungen, wird aber auch von der Beschreibung | |
dieses Tages durch Calle selbst ergänzt und durch die Fotografien eines | |
Freunds, auf denen der Detektiv bei der Arbeit zu sehen ist. In ihrem Text | |
spannt Calle ein zartes Beziehungsband zu ihrem Schatten, der nichts davon | |
weiß, dass die Beobachtete sich seiner bewusst ist, und nichts davon, dass | |
er selbst beobachtet wird: Längst befindet er sich im autobiografischen | |
Netz. Wie wir, die ihn sehen, wie er darin zappelt. | |
Bis 21. 5., Museum Fridericianum, Kassel. Der Katalog zur Ausstellung | |
kostet 28 DM | |
26 Apr 2000 | |
## AUTOREN | |
MARTIN PESCH | |
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