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# taz.de -- Der Schlosser war besser
> Zwanzig Jahre nach dem Tod von Josip Broz, genannt Tito, erinnern sich
> immer mehr Ex-Jugoslawen an die goldenen Zeiten des Titoismus. Ganz
> Jugoslawien badete im Sommer im Meer, und im Winter fuhr es Ski
von IVAN IVANJI
Am 4. Mai 1980, einem sonnigen Sonntag, blieb kurz nach 15 Uhr im Klinikum
der jugoslawischen Stadt Ljubljana das Herz eines alten Mannes stehen. Kurz
darauf ertönten überall im Lande Sirenen, Menschen verließen massenhaft
ihre Arbeitsplätze, Autofahrer ließen ihre Fahrzeuge mitten auf der Straße
stehen, Lehrer unterbrachen den Unterricht und schlossen sich mit ihren
Schülern den Trauerzügen an, die sich allerorts spontan bildeten. Von
Maribor an der österreichischen bis nach Gevgelia an der griechischen
Grenze fiel Jugoslawien in Trauer – denn der Tote war der Präsident der
Landes, Josip Broz, genannt „Tito“.
Von heute aus betrachtet, mag die Aufregung um den Tod eines einzelnen
Menschen übertrieben wirken. Doch als Tito Anfang der Achtzigerjahre starb,
war seine Sozialistische Föderative Balkanrepublik nicht von Krisen
erschüttert, der letzte Krieg 35 Jahre vorbei, das blockfreie Land weltweit
diplomatisch hoch angesehen. Man konnte mit dem alten jugoslawischen Pass
mehr und einfacher reisen als mit jedem anderen Ausweisdokument der
damaligen Welt. Zudem war Jugoslawien zumindest im internationalen Maßstab
ein wohlhabendes Land – eine luxuriöse Lage, die die meisten Menschen in-
und außerhalb Jugoslawiens Tito zuschrieben.
Dabei war allen bewusst, dass es auf dem Balkan nicht immer so beschaulich
zugegangen war. Das 1918 als „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“
gegründete, später in Jugoslawien (Südslawien) umbenannte Land war ein
Jahrtausend lang die Grenzregion zwischen östlichem und westlichem
Christentum, danach zwischen Christentum und Islam gewesen. So gehörten die
christlichen slawischen Stämme der Serben, Kroaten, Montenegriner,
Makedonen, Slowenen einer anderen Welt an als die Muslime oder Bosniaken –
jene Balkanslawen, die den Islam angenommen hatten. Mit ihnen vermischt
lebten die Angehörigen dutzender nationaler Minderheiten. Im Zweiten
Weltkrieg führte das zu blutigen Kämpfen zwischen Serben, Kroaten und
Muslimen.
Auch zu Titos Zeiten sprachen die Jugoslawen verschiedene Sprachen und
blieben Angehörige verschiedener Religionen – doch Jugoslawien blieb
friedlich. Und niemand bezweifelte, dass dies in allererster Linie der
starken Hand der Kommunistischen Partei zu danken war – der Partei Titos.
Tito wurde 1934 zum Mitglied des Politbüros der jugoslawischen Kommunisten
gewählt. Die Partei war damals im jugoslawischen Königreich verboten und
wurde von Fraktionskämpfen geschüttelt. Die Komintern erwog ihre Auflösung,
Tito gelang es jedoch, von der Moskauer Zentrale den Auftrag zu erhalten,
sie zu reorganisieren. Stattdessen jedoch begann der neue KP-Chef, seine
Partei von der Sowjetunion abzukoppeln. Im Alleingang forderte Tito
diejenigen Mitglieder der KPJ-Führung, die sich bis dahin teils in der
UdSSR, teils in Frankreich aufgehalten hatten, auf, in die Heimat
zurückzukehren. Den Kampf seiner Partisanen gegen die deutsche
Besatzungsmacht, die Jugoslawien 1941 überrannt hatte, führte er endgültig
gegen Moskaus Direktiven. So machten die Jugoslawen nie einen Hehl daraus,
dass sie ihren Volksbefreiungskampf nicht wie in Russland als
„Vaterländischen Krieg“ führen wollten – sondern als sozialistische
Revolution.
Im Depeschenwechsel zwischen Titos Stab in den „freien Bergen“ und Moskau
tönte Stalin damals, die Genossen auf dem Balkan würden „einen Dolch in den
Rücken der Sowjetunion stechen“. Tatsächlich besuchten Delegationen der
Briten und der USA noch vor Stalins Gesandten Titos Hauptquartier. Durch
diese auf Unabhängigkeit bedachte Politik erreichte Tito, dass seine
Partisanenarmee als gleichberechtigte Krieg führende Macht eingestuft wurde
und sein „Nationalkomitee“ als Kriegsregierung. Bevor die Rote Armee im
Herbst 1944 jugoslawischen Boden betrat, musste die Sowjetunion daher
formal um Erlaubnis ersuchen – eine Formalität, die die westlichen
Allierten gegenüber ihrem Verbündeten de Gaulle nicht nötig fanden.
1948 versuchte Stalin dann, den allzu selbstständigen jugoslawischen
Parteichef zu entmachten. Die Aktion misslang – statt Tito durch einen
Moskau ergebenen Kommunisten zu ersetzten, musste die Sowjetunion den
Abfall Jugoslawiens vom Ostblock hinnehmen. Das war die größte Sensation in
Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs: Bis dahin hatten sich zwei
Machtblöcke im Kalten Krieg gegenübergestanden. Jetzt gab es zumindest
einen unabhängigen Spieler: Titos Jugoslawien.
Kurz nach dem Bruch mit Moskau begann innerhalb der jugoslawischen
Kommunisten die ideologische Diskussion um die „Arbeiterselbstverwaltung“ �…
das Experiment einer direkten Demokratie, die zuerst in der Wirtschaft,
danach im ganzen politischen Leben eingeführt werden sollte. „Titoismus“
bedeutete in der Praxis, dass die Arbeitnehmer in den Betrieben und die
Bürger in den Gemeinden alle Entscheidungen treffen sollten. Die nun in
„Bund der Kommunisten“ umbenannte KP schrieb ihr Ideal vom Übergang des
Einparteienstaates in einen „Keinparteienstaat“ gar in ihr Programm.
Der „Kommunismus mit menschlichem Antlitz“ jedoch wurde auch in Titos
Jugoslawien nie erreicht. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gab es
schwere Repressionen, ebenso wie nach der Abkehr von Moskau gegen die
Stalinisten, die in ein Konzentrationslager auf die „Nackte Insel“ vor
Dalmatien geschickt wurden. Die Tragödie war, dass Titos Geheimpolizei
gegen die Stalinisten mit stalinistischen Methoden vorging.
In der Außenpolitik engagierte sich Tito seit den Sechzigerjahren in der
Bewegung der Blockfreien. Die USA und die Sowjetunion hatten die Interessen
der Menschen, die im Süden der Weltkugel in Afrika, Asien und Lateinamerika
lebten, vernachlässigt. Diese wollten die Blockfreien nun vertreten. Auch
innerhalb der Vereinten Nationen und später bei der Gründung der Konferenz
für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa hat Titos Politik eine
wesentliche Rolle bei der Vermittlung zwischen Ost und West gespielt.
Hat der Mann aus Kumrovec geahnt, dass seinem Lebenswerk schon so kurz nach
seinem Tod ein schreckliches Ende beschieden sein würde? Zuletzt
wiederholte Tito immer wieder, man möge Jugoslawien behüten wie seinen
Augapfel. Wenn er sich unbeobachtet glaubte, war er schlecht gelaunt und
wirkte depressiv. Damals erklärte ich mir das mit den Schmerzen, die den
alten Mann quälten. Heute glaube ich, dass er den Schrecken voraussah.
In den vergangenen zehn Jahren war es in fast allen Teilen des ehemaligen
Jugoslawien üblich, Tito als Diktator zu beschimpfen und in seiner Zeit die
Ursache für die blutigen Bürgerkriege nach seinem Tod zu suchen. Heute
jedoch, neun Jahre nach dem Ende Jugoslawiens, beginnen die Älteren, ihren
Kindern zu erzählen, wie einfache Arbeiter schon in den Sechzigerjahren ihr
erstes kleines Auto kauften; wie einfache Bürger Ausflüge nach Griechenland
und Triest machen oder Arbeit im Ausland suchen konnten; wie ganz
Jugoslawien im Sommer im Meer badete und im Winter Ski fuhr; wie die
einheimische Währung, der Dinar, zwar nicht offiziell konvertierbar war,
aber doch in allen europäischen Banken gehandelt wurde; wie – dank der
Gastarbeiter und des blühenden Fremdenverkehrs – immer genug ausländische
Währung ins Land kam; dass es auf jeder jugoslawischen Bank möglich war,
ein besonderes Devisenkonto zu eröffnen, und dass jeder Jugoslawe alle
gängigen Kreditkarten erhalten konnte; und wie man sich stolz fühlte im
Staate Titos – als Bürger der Welt.
In keinem Land des Ostens war die Freiheit, in keinem des Westens die
soziale Sicherheit so groß wie im sozialistischen Jugoslawien. Heute
hingegen vegetieren die Menschen dort vor sich hin; in Serbien liegt der
Durchschnittsverdienst bei 80 Mark monatlich. Deshalb wohl findet man heute
allerorts im ehemaligen Staate Titos das gleiche Graffito: „Der Schlosser
war besser!“
4 May 2000
## AUTOREN
IVAN IVANJI
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