# taz.de -- Die List der Vernunft | |
> David Remnicks wunderbares Buch „King of the World“ betrachtet die Jahre | |
> der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung aus dem Blickwinkel des | |
> Schwergewichtsboxens. Eine lohnende Lektüre, meint Kevin McAleer | |
egonnen hatte er als Cassius Clay. Das wollen wir nicht vergessen. Denn | |
seine Geschichte ist die klassische amerikanische Geschichte von | |
Selbsterfindung und Selbstvermarktung: Geboren wurde er als Cassius | |
Marcellus Clay, als schwarzer Junge im Kentucky der Rassentrennung. Erst | |
mit zweiundzwanzig Jahren verwandelte er sich in Muhammed Ali, den | |
Schwergewichtschampion und „King of the World“ – so seine eigenen Worte. | |
Und er war ein Mann vieler Worte. Das machte ihn bei jenem anderen King, | |
Martin Luther, nicht besonders beliebt. Wirklich schlimm jedoch war für | |
King, dass Clay sich nach dem Titelgewinn 1964 in aller Öffentlichkeit den | |
Black Muslims anschloss, einer radikalen separatistischen Schwarzengruppe. | |
Sie trat für Rassentrennung ein und suchte sogar ein Bündnis mit dem | |
Ku-Klux-Klan, der auch, hier mit den Black Muslims einig, die Rassen | |
separieren wollte – um allerdings eine weiße Vorherrschaft zu erkämpfen. | |
Martin Luther King hingegen trat für die Rassenintegration ein, sein | |
Erzfeind war der Ku-Klux-Klan. Über Clay sagte King damals, dass er ein | |
„Champion der Rassentrennung“ sei. | |
David Remnicks hervorragendes Buch „King of the World“ analysiert diese und | |
andere rassenpolitische Themen der fünfziger und sechziger Jahre, indem er | |
sie mit dem Boxsport verschränkt. Durch die Kategorie des Schwergewichts, | |
die er sowohl als Metapher wie als Fokus verwendet, ist Remnick ein | |
fesselnder Blick auf die amerikanische Gesellschaft in den Jahren der | |
Bürgerrechtsbewegung gelungen. Seine Hauptfiguren sind die | |
Schwergewichtschampions Floyd Patterson, Sonny Liston und Clay/Ali – sie | |
verkörpern die welthistorischen Veränderungen in den Rassenbeziehungen | |
jener Zeit und das sich entwickelnde schwarze Bewusstsein in einer Art und | |
Weise, wie es Hegel nicht besser hätte benennen können. Sowohl Liston als | |
auch Patterson wurden von Clay alias Ali nicht nur im Ring besiegt; sie | |
verkörperten zugleich bestimmte schwarze Stereotype, die er zu überwinden | |
entschlossen war. „Ich mußte beweisen, dass man ein neuartiger Schwarzer | |
sein konnte“, sagte er später. | |
## Die „Farbgrenze“ | |
Alis Bühne war der Boxring: Einen symbolträchtigeren Ort hätte er nicht | |
finden können, denn das amerikanische Boxen hat seine Wurzeln in der | |
Sklaverei. Plantagenbesitzer des Südens stellten ihre stärksten Sklaven | |
gegeneinander auf und ließen sie häufig bis zum Tode kämpfen; der erste | |
amerikanische Champion war ein Sklave aus Virginia. Nach dem Bürgerkrieg | |
und der Emanzipation der Schwarzen zogen jedoch weiße Champions eine | |
„Farbgrenze“, indem sie sich weigerten, gegen schwarze Herausforderer | |
anzutreten – bis Jack Johnson in den Ring trat; er war als Boxer so | |
herausragend, dass die weißen Champions ihn nicht lange ignorieren konnten: | |
1908 holte er sich den Titel und verteidigte ihn sieben Jahre lang. Johnson | |
war für seine Zeit ein bemerkenswerter Mann: Der weißen Gesellschaft lachte | |
er ins Gesicht, weiße Gegner verspottete er – und er hatte Affären mit | |
weißen Frauen. Wenn er vor Reportern trainierte, spielte er mit den | |
sexuellen Ängsten der Weißen, indem er seinen Penis mit Gazestreifen | |
umwickelte und sich in hautenge Shorts zwängte. Sein Kampf am 4. Juli 1910 | |
gegen den vorherigen weißen Schwergewichtschampion Jim Jeffries galt | |
Schwarzen wie Weißen als Kampf um die rassische Vorherrschaft – und als | |
Johnson Jeffries zu Boden zwang, kam es in ganz Amerika zu schwarzen | |
Freudenkundgebungen und weißen Unruhen. | |
Nach Johnsons Herrschaft gab es zweiundzwanzig Jahre lang weiße Champions. | |
Das hatte weniger mit weißer Dominanz zu tun, wie Remnick meint, als mit | |
der „Farbgrenze“: Die weißen Champions mieden erneut die schwarzen | |
Schwergewichtler. | |
Diese Ära beendete Joe Louis, der Champion von 1937 bis 1948. Und ihm | |
gelang es zudem als Erstem, das ganze Land hinter einem | |
Schwergewichtschampion zu vereinen. Louis und seine Manager waren | |
entschlossen, ihn als „Anti-Johnson“ aufzubauen, der sich im Ring wie auch | |
außerhalb untadelig aufführte. Zum nationalen Volkshelden für Weiße und | |
Schwarze gleichermaßen wurde Louis allerdings erst 1938 durch seinen | |
Erstrunden-K.o. über den hitlerschen Übermenschen Max Schmeling. Ein | |
berühmter weißer Journalist pries Louis mit den Worten: „Er macht seiner | |
Rasse Ehre – der menschlichen Rasse.“ | |
Ein Champion ganz anderer Art, so Remnick, war Floyd Patterson, der sich | |
1956 als jüngster Schwergewichtschampion aller Zeiten ausgezeichnet hatte. | |
Psychologisch gesprochen bot Patterson eine faszinierende Fallstudie. | |
Sportjournalisten nannten ihn „Freud“ Patterson. Er selbst nannte sich | |
einen Feigling und litt unter Depressionen. Bei Titelkämpfen deponierte er | |
in seiner Umkleidekabine eine Verkleidung, damit er sich nach einer | |
Niederlage an der Presse vorbeistehlen konnte. Er war jedoch auch ein | |
Vorkämpfer der Rassenintegration und praktizierender Katholik (also ein | |
Christ und kein Muslim), den Weiße nicht als Bedrohung empfanden. | |
1962 kämpfte Patterson gegen Charles „Sonny“ Liston. Liston besaß einen | |
brutalen Körperbau, tote Augen, einen Killerschlag und ein Strafregister. | |
Die gemäßigte Schwarzen-Organisation NAACP stand beim Liston-Kampf fest auf | |
der Seite von Patterson; ebenso John Kennedy, der Patterson ins Weiße Haus | |
einlud und ihm sagte: „Den müssen Sie schlagen.“ Da keine weißen Hoffnung… | |
zur Verfügung standen, nahm selbst die weiße Presse erstmals Unterschiede | |
zwischen schwarzen Boxern zur Kenntnis. Patterson war der „weiße Farbige“, | |
der vorbestrafte Liston der „böse Nigger“. Er war wirklich böse: Er | |
vernichtete Patterson binnen zwei Minuten und sechs Sekunden. Beim | |
Rückkampf brauchte er vier Sekunden mehr. | |
## Poesie im Ring | |
1964 besiegte dann Cassius Clay das Monster Liston und schlug ihn beim | |
Rückkampf in der ersten Runde k.o. – der Rest ist Geschichte. Aber was | |
brachte er nun an „Neuartigem“ in den Boxsport ein? Im Schwergewicht sehr | |
viel. Er vereinte eine blendende Geschwindigkeit mit einem anmutigen Stil, | |
der sich an dem des Mittelgewichtlers Sugar Ray Robinson ausgerichtet | |
hatte. Ali nannte das mit seinem lyrischen Talent „Flattern wie ein | |
Schmetterling, stechen wie eine Biene“; nicht nur in diesem Sinne brachte | |
er Poesie in den Ring. | |
Was seinen persönlichen Stil jedoch anging, brachte Ali wenig Neues, denn | |
er war die Wiedergeburt des ungestümen und rebellischen Jack Johnson, den | |
Ali bewunderte. Aber während Johnson von der weißen Gesellschaft verteufelt | |
worden war, wurde Ali am Ende von ihr umarmt. Schließlich hatte er Johnson | |
gegenüber gewisse Vorteile. Er besaß nicht nur Witz, Charme, Charisma und | |
Schönheit (Remnick vermerkt schneidend, dass Clay mit Sonny Listons Gesicht | |
niemals zu Ali geworden wäre); er ließ sich auch nicht mit weißen Frauen | |
ein (für einen Black Muslim waren sie tabu) und schonte so die weißen | |
Sexualängste; und zudem hatte er ein Gefühl für den richtigen Zeitpunkt. | |
Tatsächlich zeigte er im Ring wie auch außerhalb ein hervorragendes Gespür | |
für das richtige Timing; er erschien zu einem Zeitpunkt in der | |
amerikanischen Geschichte, als die weiße Öffentlichkeit einen | |
selbstbewussten schwarzen Athleten tolerieren und sich zugleich noch von | |
seiner Unverschämtheit reizen ließ. Als er den Kriegsdienst in Vietnam | |
verweigerte, nahm ihm der Boxverband den Titel. aber in der Gesellschaft | |
wurde er damit zum heroischen Märtyrer. „Seine Rebellion“, schreibt Remnick | |
knapp und präzise, „hatte als rassische begonnen und erhielt nun eine neue | |
Dimension“: Er gewann die Liebe und den Respekt von Schwarzen wie Weißen | |
und überschritt wie einstmals Joe Louis die Rassengrenzen – allerdings auf | |
die exakt entgegengesetzte Art und Weise: Statt Onkel Sam zu dienen, hatte | |
er ihm getrotzt. Wie würde Hegel das nennen – die List der Vernunft? | |
David Remnick: „King of the World. Der Aufstieg des Cassius Clay oder die | |
Geburt des Muhammed Ali“. Berlin Verlag, 2000, 494 Seiten, 44 Mark | |
4 Jul 2000 | |
## AUTOREN | |
KEVIN MCALEER | |
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