# taz.de -- Schlussbericht zum NSU-Ausschuss: „Ein nicht vorstellbares Versag… | |
> Nie wieder. Ein Satz mit historischer Dimension. Nach 19 Monaten kommt | |
> der NSU-Ausschuss im Bundestag zu einem vernichtenden Urteil. | |
Bild: Mehr als 100 Zeugen und Sachverständige hat der NSU-Ausschuss vernommen … | |
BERLIN taz | Alle Parteien im Bundestag setzen einen Untersuchungsausschuss | |
ein, sämtliche Beweisbeschlüsse werden einstimmig gefasst, und am Ende | |
steht ein gemeinsames Fazit, das mehr ist als ein Minimalkonsens: So etwas | |
hat es in der Geschichte des bundesdeutschen Parlamentarismus noch nicht | |
gegeben. | |
Beim Untersuchungsausschuss zum Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) | |
ist genau das gelungen. Wenn nach 19 Monaten an diesem Donnerstag dem | |
Bundestagspräsidenten Norbert Lammert (CDU) der gut 1.000 Seiten lange | |
Abschlussbericht übergeben wird, ist darin eine in dieser Form beispiellose | |
gemeinsame Bewertung aller fünf Fraktionen enthalten – von der Union bis | |
zur Linkspartei. | |
Nach fast 350 Stunden Zeugenvernehmungen kommen die Ausschussmitglieder | |
einmütig zu einem harschen Urteil über das Handeln von Polizei, | |
Geheimdiensten und Justiz. Von einem „bis dahin nicht vorstellbaren | |
Versagen“ ist in dem Berichtsteil, der der taz vorab vorlag, die Rede. Von | |
„massiven Versäumnissen, Fehlleistungen und Fehleinschätzungen der | |
deutschen Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden“. | |
Die Erwartung der Ausschussmitglieder: „Dass in den Sicherheits- und | |
Ermittlungsbehörden die Gefahr von Rechtsterrorismus nie wieder so | |
fahrlässig gering eingeschätzt wird.“ | |
Nie wieder. Ein Satz mit historischer Dimension. | |
Zehn Morde, mindestens zwei Bombenanschläge und 15 Raubüberfälle zwischen | |
1998 und 2011 werden der Terrorgruppe NSU zugeschrieben – die schlimmste | |
Serie rechtsextremer Gewalt in der Bundesrepublik. 13 Jahre lang blieben | |
die mutmaßlichen Täter unerkannt. | |
„Der NSU verfolgte das Ziel, mit Mord und Gewalt aus Deutschland ein | |
unfreies, abgeschottetes Land des Rassenwahns zu machen“, heißt es in der | |
gemeinsamen Bewertung von Union, SPD, FDP, Grünen und Linkspartei. „Nach | |
der Ideologie der Täter sollte niemand in Deutschland so leben dürfen, wie | |
fast alle in Deutschland leben wollen: in einer freien, offenen, | |
vielfältigen, friedlichen, solidarischen Gesellschaft.“ | |
## „Gegeneinander der Behörden“ | |
Eine der zentralen Fragen des Ausschusses war: Warum ist es den | |
Sicherheitsbehörden über mehr als ein Jahrzehnt nicht gelungen, die | |
abgetauchten Jenaer Neonazis zu finden – obwohl sich diese kaum 100 | |
Kilometer von ihrer Heimatstadt entfernt in Sachsen versteckten und sich in | |
der rechtsextremen Szene zahlreiche vom Staat bezahlte Spitzel | |
(„V-Personen“) tummelten? | |
Die Antwort schmerzt. | |
Da sind zum einen die Zustände in Thüringen, wo nach dem Untertauchen des | |
Trios Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe im Januar 1998 nach | |
Überzeugung des Ausschusses statt einem „vertraulichen Miteinander“ ein | |
„Gegeneinander der Behörden“ herrschte. Das „eigentlich für die | |
Ermittlungen zuständige“ Thüringer Landeskriminalamt sei durch den | |
Verfassungsschutz „höchst ungenügend“ über dessen Erkenntnisse zu den | |
flüchtigen Neonazis informiert worden. | |
Dabei habe es durchaus Hinweise gegeben, dass sich die Jenaer Neonazis im | |
Untergrund bewaffneten, Überfälle begingen und sich in Richtung Terrorismus | |
bewegten. „Aus oft nicht nachvollziehbaren Erwägungen“ seien diese Hinweise | |
aber von den Verfassungsschutzbehörden nicht an die Polizei weitergegeben | |
worden – meist mit dem Pauschalargument „Schutz der eigenen Quellen“. | |
Das Versagen sieht der Ausschuss aber keineswegs nur bei den Ländern. Das | |
Bundesamt für Verfassungsschutz habe die Gefahr ebenfalls unterschätzt und | |
verharmlost. „Es hat unbestreitbar versagt“, lautet das Fazit der | |
Abgeordneten über die Behörde. „Über Jahrzehnte“ sei nicht erkannt worde… | |
„welche realen Gefahren sich aus der militanten neonazistischen Szene | |
entwickelten“. | |
Der zweite große Komplex, mit dem sich der Ausschuss in den letzten 19 | |
Monaten befasste, waren die erfolglosen Ermittlungen in denjenigen | |
Bundesländern, in denen der NSU zwischen 2000 und 2007 mordete und | |
Anschläge verübte: Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Hessen, | |
Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern. | |
Scharfe Kritik üben die Abgeordneten daran, wie verschiedene | |
Polizeibehörden unter Beteiligung des BKA zu den neun Morden an türkisch- | |
und griechischstämmigen Männern ermittelten. Im Bericht heißt es: | |
„Jahrelang wurde das Motiv für die Taten im Opferumfeld gesucht, wurden die | |
Morde im Kontext von Ausländerkriminalität, Rotlichtmilieu, Mafia und | |
Rauschgifthandel eingeordnet – nur ein möglicher rassistischer Hintergrund | |
als Motiv wurde zu lange nicht in Erwägung gezogen und nie mit dem nötigen | |
Nachdruck verfolgt.“ | |
Die Ermittlungen seien „nicht ausreichend offen“ und in Teilen | |
„vorurteilsbeladen“ gewesen. Anstatt stur an einer Theorie festzuhalten – | |
organisierte Kriminalität – wünscht sich der Ausschuss einen „weniger von | |
Beharrung geleiteten, unbefangenen Blick auf die Tatsachen“. | |
Auch den Abgeordneten ist bewusst, dass bei Morden Ermittlungen im Umfeld | |
der Opfer ein wichtiger Teil der Polizeiarbeit sind; doch bei dieser | |
Mordserie habe es vielfach „an Sorgfalt bei der Auswahl geeigneter und | |
angemessener Ermittlungsansätze“ gefehlt. Die Angehörigen der Opfer hätten | |
„zum Teil jahrelang selbst im Fokus von Ermittlungen“ gestanden „und wurd… | |
zu Unrecht verdächtigt“. | |
## Schily und Schäuble? Ohne Interesse | |
Einige der Hinterbliebenen seien „ohne wirklichen Anlass mehrere Monate mit | |
Telefonüberwachungsmaßnahmen überzogen und ihre privaten Gespräche im | |
Familienauto mit Mikrofonen abgehört“ worden. Außerdem seien gegenüber | |
Angehörigen in Vernehmungen „wissentlich falsche Anschuldigungen gegen die | |
Ermordeten erhoben“ worden. So wurde eine der Witwen mit der frei | |
erfundenen Behauptung konfrontiert, ihr Mann habe heimlich eine Geliebte | |
und zwei weitere Kinder gehabt. | |
Ungewöhnlich ist auch, dass der Ausschuss über Parteigrenzen weg das | |
Handeln politisch Verantwortlicher kritisch beurteilt. Die ehemaligen | |
Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) und Wolfgang Schäuble (CDU) sowie | |
vier ehemalige Länderinnenminister werden in der gemeinsamen Bewertung im | |
Abschlussbericht namentlich aufgeführt. Weder Schily noch Schäuble, so das | |
wenig schmeichelhafte Urteil, hätten überhaupt Interesse an den | |
Ermittlungen zu den heute dem NSU zugeschriebenen Taten gezeigt. | |
Immerhin kann der Ausschuss nach der Vernehmung von 107 Zeugen und | |
Sachverständigen und dem Wälzen von 12.000 Aktenordnern aber für die | |
schlimmsten Befürchtungen Entwarnung geben: Es hätten sich keine | |
Anhaltspunkte finden lassen, dass Behörden „die Terrorgruppe NSU und ihre | |
Straftaten in irgendeiner Art und Weise unterstützen oder billigten“ – | |
alles andere hätte das Land in eine Staatskrise gestürzt. | |
„Auch das jahrelang unerkannte Leben des Trios mitten in Deutschland wurde | |
von Behörden weder unterstützt noch gebilligt“, heißt es im | |
Abschlussbericht weiter. Doch dann folgt ein Satz, der schon schlimm genug | |
ist: „Diese Feststellung gilt nicht für die von Sicherheitsbehörden | |
geführten V-Personen aus der rechten Szene.“ | |
22 Aug 2013 | |
## AUTOREN | |
Wolf Wiedmann-Schmidt | |
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