# taz.de -- NS-Geschichte in Berlin: Gegen die Verdrängung | |
> Auf einer Schifffahrt über die Spree und den Landwehrkanal kann man mit | |
> Studierenden der Geschichte nach den Spuren der NS-Zeit in Berlin suchen. | |
> Am Sonntag ist die letzte Fahrt. | |
Bild: Der Landwehrkanal in Kreuzberg. | |
Mit Schifffahrten auf der Spree verbindet man in der Regel Familienausflüge | |
für die Verwandtschaft aus dem Westen, Bockwurst mit trockenen Brötchen und | |
Filterkaffee mit Kondensmilch – also eher eine gähnende Langeweile, die | |
sich durch das sanfte Schaukeln auf dem Wasser bis zu Anfällen von | |
Schlafkrankheit steigern kann. Nicht so auf den Fahrten mit dem Titel | |
„(Nicht-)Orte: Spuren der NS-Zeit“, die die Berliner Geschichtswerkstatt | |
anlässlich des Themenjahres „Zerstörte Vielfalt“ mit Studierenden der | |
Humboldt-Universität gestaltet hat. Von der ersten bis zur letzten Minute | |
hat man hier keine Chance auf das kleinste Nickerchen. | |
Das liegt vor allem daran, dass sich die angehenden Historikerinnen und | |
Historiker bei ihrem Vortrag nicht allein auf die große Geschichte der | |
NS-Vergangenheit kaprizieren, auf den Apparat der Zerstörung und | |
Vernichtung, die Deportation der Berliner Juden, die Verfolgung | |
Homosexueller und politischer Gegner – sondern auch auf viele kleine | |
Geschichten des privaten Lebens, des Alltags in den dreißiger und vierziger | |
Jahren in Berlin, auf Einzelschicksale. Dazu gibt es immer wieder Lieder zu | |
hören, von Claire Waldoff und Kurt Tucholsky, die unter den Nazis ihre | |
Schwierigkeiten hatten, und die einen angenehm aus der Schwere des Vortrags | |
heraustragen. | |
Die Fahrt beginnt am Historischen Hafen und geht Richtung Osten. Wir | |
passieren zunächst den Ostbahnhof, während des sogenannten Dritten Reiches | |
Ausgangspunkt von zahlreichen Soldatentransporten, anschließend die | |
Oberbaumbrücke, die am 23. April 1945 gesprengt wurde, um den Vormarsch der | |
sowjetischen Truppen zu verhindern, und schließlich den Osthafen, den die | |
Wehrmacht als Güterumschlagplatz nutzte. | |
Man erfährt Interessantes über die „Taktik der verbrannten Erde auf | |
deutschem Gebiet“ und das System der Zwangsarbeit im Nazi-Deutschland. Was | |
die Studierenden so interessant vortragen, dass sich kaum Gespräche | |
zwischen den etwa zwanzig Teilnehmern der Fahrt entwickeln. Etwa ein | |
Chirurgenpaar aus Zehlendorf, pensionierte Lehrer aus Charlottenburg und | |
Touristen aus den Niederlanden, wie sie sich kurz, während die Musik läuft, | |
vorstellen. | |
Noch schweigsamer werden die Zuhörer, als wir in den Landwehrkanal | |
einbiegen und durch Neukölln kommen, den ehemaligen Arbeiterbezirk, in dem | |
unterdurchschnittlich wenige die NSDAP gewählt haben. Hier, so erfährt man | |
von den Studierenden, war auch das Bildungswesen vergleichsweise | |
fortschrittlich – beispielsweise gab es Abiturientenkurse für Arbeiter. | |
Doch bald nach der Machtübernahme schloss die NSDAP die als Symbol für | |
marxistische Schulpolitik geltende Karl-Marx-Schule, es wurden Rektoren, | |
Lehrer und Leiter entlassen. Es bildeten sich aber auch in diesen Kreisen | |
Widerstandsgruppen – etwa die Arbeitersportler um Werner Seelenbinder oder | |
die Rütli-Gruppe mit mehreren ehemaligen Schülern der nicht weit vom Ufer | |
entfernten Rütli-Schule. | |
Wenig später passieren wir zwei Orte, anhand derer die Studierenden von | |
zwei Einzelschicksalen erzählen, deren Geschichten auch nach der | |
Schifffahrt noch nachhallen werden. Die eine von ihnen ist die von Regina | |
Jonas, der ersten weiblichen Rabbinerin, die in einer orthodoxen Synagoge | |
predigen durfte – und zwar von 1938 bis 1942 in der Synagoge am | |
Fraenkelufer, von der heute nur noch Teile erhalten sind. Bis zu ihrer | |
Deportation im September 1942 kümmerte sie sich um die Gläubigen der | |
Gemeinde. Zusammen mit ihrer Mutter zunächst nach Theresienstadt | |
deportiert, wurde sie im Dezember 1944 nach Auschwitz gebracht und dort | |
ermordet. | |
Die andere, fast noch eindrücklichere Geschichte erzählen die Studierenden, | |
als wir das Urbankrankenhaus passieren. Hier kam 1933 das zweite Kind von | |
Bayume Mohamed Husen zur Welt. Husen selbst wurde 1904 in Daressalam im | |
damaligen Deutsch-Ostafrika geboren. Im Ersten Weltkrieg trat Husen als | |
Kindersoldat der deutsch-ostafrikanischen Kolonialtruppe bei. Als er nach | |
dem Krieg hörte, dass Söldnern wie ihm noch Löhne vom Deutschen Reich | |
ausgezahlt werden sollten, reiste er 1929 nach Berlin und forderte sein | |
Geld ein – jedoch vergeblich. Dennoch blieb er in der Stadt und arbeitete | |
wie viele der rund 3.000 Schwarzen, die Anfang der dreißiger Jahre in | |
Deutschland lebten, in der Gastronomie- und Unterhaltungsbranche. Zudem | |
unterrichtete er seine Muttersprache Kiswahili an der Berliner Universität. | |
1935 verlor Husen seine Stellung als Kellner, weil ihm ein Diebstahl | |
nachgesagt worden war. Er begann bei den sogenannten Völkerschauen und als | |
Schauspieler in Kolonialfilmen zu arbeiten. Doch dann wurde er denunziert, | |
sein Verhältnis mit einer weißen Deutschen wurde bekannt und er wurde wegen | |
„Rassenschande“ von der Gestapo verhaftet. Im Gestapo-Gefängnis am | |
Alexanderplatz kam er in die sogenannte Schutzhaft und wurde im September | |
1941 in das Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin überstellt. Dort | |
starb er am 24. November 1944. Seine Todesursache ist ungeklärt. | |
Wir lassen Kreuzberg hinter uns, trotz der Fülle an Geschichten ohne | |
Ermüdungserscheinungen. Die Studierenden berichten von einem ehemaligen | |
Penthouse, in dem sich heute der Club 40seconds befindet. Ende der | |
zwanziger Jahre war hier die Tabakwarenfirma Loeser & Wolff, die in den | |
dreißiger Jahren den „Arisierungsmaßnahmen“ der Nationalsozialisten zum | |
Opfer fiel. | |
Wenig später, wir haben inzwischen Moabit erreicht, wird wieder klar, warum | |
die Studierenden auf ihrer Fahrt auch von „Nicht-Orten“ sprechen. Es geht | |
nicht um das, was man sieht, sondern eben gerade auch um das, was man nicht | |
mehr sieht, was dem Vergessen entrissen werden muss. Hier erzählen sie von | |
den Borsigwerken, an die nur noch Überreste des Borsigstegs zu beiden | |
Seiten des Ufers erinnern. In den Borsigwerken wurden in den dreißiger | |
Jahren Flak-Geschütze und Panzerfäuste gebaut und bis zu 6.000 | |
Zwangsarbeiter beschäftigt. | |
Als wir nach drei Stunden wieder mit dem Historischen Hafen den | |
Ausgangspunkt der Fahrt erreichen, spiegelt sich noch immer kaum | |
Erschöpfung in den Gesichtern der Teilnehmer. „Diese Schifffahrt macht | |
bewusst, was man im Alltag in Berlin gern verdrängt“, sagt der Chirurg: | |
dass diese Stadt, die heute so viel Anderes verkörpert, vor nicht allzu | |
langer Zeit eben die Hauptstadt Nazi-Deutschlands war. | |
12 Jul 2013 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |