# taz.de -- „Wir wollten den Krawall“ | |
Interview HEIDE OESTREICHund EBERHARD SEIDEL | |
taz: Bernd und Martin, mit welcher Absicht sind Sie nach Genua gefahren? | |
Bernd: Wir wollten in die Zona rossa, die rote Zone, in der die Regierenden | |
der G-8-Staaten tagten, rein, das war ganz klar. | |
Unter Einsatz welcher Mittel? | |
Bernd: Mittel konnten wir nicht sehr viel mitnehmen, nur Handschuhe und | |
Hasskappen. Vor Ort haben wir natürlich noch weiteres Material gesucht und | |
gefunden. | |
Das Fernsehen vermittelte das Bild eines schwarzen Blocks, der entschlossen | |
und koordiniert die Polizei angegriffen hat. Wie lief die Kommunikation | |
unter den militanten Gruppen, die ja aus vielen verschiedenen Ländern | |
kamen? | |
Martin: Im Gegensatz zu der IWF-und Weltbank-Tagung im letzten Herbst in | |
Prag, die erfolgreich gestört wurde und deshalb einen Tag früher | |
abgebrochen werden musste, leider sehr schlecht. Es gab keinen | |
koordinierten Treffpunkt, es gab kein koordiniertes Vorgehen. Die Aktionen | |
blieben mehr oder weniger auf Kleingruppen beschränkt. | |
Bernd: In Prag wussten die Militanten und die Tute Bianche, wo die | |
gewaltfreien Gruppen sind. Man kam sich nicht in die Quere und hat den | |
Bullen keinen Anlass geboten, auf die Gewaltfreien einzuschlagen. Das hat | |
sich in Genua ab und zu durchmischt, und das war schlecht. | |
Bei vielen Demos lautet das Versprechen „Ohne Bullen kein Krawall“. Was | |
halten Sie davon? | |
Bernd: Wir wollten den Krawall. Wir wollten diesen Gipfel verhindern. Das | |
war das Ziel von Tute Bianche und von vielen Globalisierungsgegnern. | |
Viele Gruppen wie etwa Attac haben sich allerdings von der Gewalt | |
distanziert. | |
Martin: Attac will offensichtlich etwas anderes als wir. Attac will | |
Reformen, eine Stärkung der Nationalstaaten. Wir stehen nach wie vor für | |
eine grundlegende Umwälzung der herrschenden Verhältnisse, sprich für eine | |
Revolution, wenngleich wir das in absehbare Zeit sicherlich nicht erleben | |
werden. | |
Bernd: Es kann nicht darum gehen, den Kapitalismus zu reformieren. | |
Natürlich ist es ein Fortschritt, eine gerechtere Welt zu schaffen, aber | |
einen gerechten Kapitalismus gibt es nicht. | |
Allerdings müssen Sie sich dann fragen lassen, wie denn Ihre | |
Systemalternative aussehen soll. Planwirtschaft war nicht besonders | |
erfolgreich bisher. | |
Martin: Im Gegenteil, der Kapitalismus muss sich fragen lassen, wie er | |
weltweit Millionen von Hungertoten rechtfertigt. | |
Bernd: Anders, als der Staatssozialismus das versucht hat, muss man zu | |
regionalen Ökonomien zurückkehren. Aber das ist natürlich ein weites Feld. | |
Stimmt. Aber was bedeuten die offensichtlichen Differenzen für eine | |
mögliche Bewegung der Globalisierungskritiker? Wo ist eine Zusammenarbeit | |
möglich? | |
Bernd: In der Anti-AKW-Bewegung gab es die Parole „Einheit in der | |
Vielfalt“. Wenn man im Vorfeld der Demos klar abspricht, wer was machen | |
möchte, und man sich so bei den verschiedenen Aktionsformen nicht in die | |
Quere kommt, dann kann das sehr verstärkend wirken. Wir wissen alle, mit | |
Militanz allein werden wir nicht die Weltrevolution herbeiführen. Es müssen | |
beide Bewegungen sein, die militante und die gewaltfreie. | |
Viele Globalisierungskritiker werfen Ihnen allerdings vor, dass Sie Ihrem | |
Anliegen mit der von Ihnen ausgeübten Gewalt schaden. | |
Bernd: Das halte ich für völlig falsch. Es ist leider so, dass man in den | |
Medien nur dann Gehör findest, wenn irgendwo Steine fliegen. Es gab in | |
Genua einen fünftägigen Gegenkongress, über den wurde fast nichts | |
berichtet. Erst mit Beginn der militanten Auseinandersetzungen änderte sich | |
das. | |
Das heißt, die Krawalle waren ein Erfolg? | |
Martin: Ja, aber zu dem sehr hohen Preis eines ermordeten Genossen, der | |
polizeilichen Prügelorgie in der Schule Diaz und vieler von den Bullen auf | |
den Straßen zusammengeknüppelter Demonstranten. Wir haben eigene Stärke | |
demonstriert und die Propagandaveranstaltung G 8 nachhaltig gestört. | |
Weltweit musste primär über den Widerstand berichtet werden und kaum über | |
die eigentliche Tagung. | |
Es gibt eine Menge Bewegungen, die ohne Gewalt viel erreicht haben. | |
Bernd: Das ist richtig. Beim letzten Castor-Transport waren die Robin-Wood- | |
und die Greenpeace-Aktionen spektakulär. Auch die Blockaden der | |
Friedensbewegung in Mutlangen haben etwas bewirkt. | |
Man kann auch sagen, Gewalt setzt man immer dann als Mittel ein, wenn einem | |
nichts anderes mehr einfällt. Warum sind Sie so fantasielos? | |
Martin: 98 Prozent meiner politischen Aktivitäten laufen gewaltfrei ab. | |
Warum die restlichen zwei Prozent nicht? | |
Martin: Weil ich mich nicht von vornherein in der Wahl der Mittel | |
beschränken möchte. Weil eine Bewegung, die Aussicht auf Erfolg haben will, | |
zumindest die Militanz mit im Gepäck haben sollte. Genua ist ein Beispiel | |
für den Erfolg von Militanz. Der politische Preis für Gipfeltreffen ist | |
inzwischen so hoch, dass sie künftig wahrscheinlich so nicht mehr | |
stattfinden werden. | |
Aber Sie nehmen in Kauf, dass Menschen verletzt werden oder dass etwa das | |
Auto einer Studentin zerstört wird, die mit der Bewegung sympathisiert. Sie | |
greifen massiv in das Leben anderer Menschen ein. Wie rechtfertigen Sie | |
das? | |
Bernd: Natürlich passieren Sachen, die völlig daneben sind. In Genua allein | |
wurden drei Banken angezündet, über denen Wohnungen waren. Da gibt es auch | |
Kritik untereinander. | |
Martin: Es gibt Situationen, da geht Leben vor Eigentum. Wenn die Bullen | |
mit ihren Wannen direkt in die Menge fahren wie in Genua, da kann man nicht | |
erst nach einem dicken Schlitten suchen, da kippt man das nächste Auto um | |
und zündet es an. Das ist für die von Ihnen erwähnte Studentin nicht schön, | |
aber leider notwendig. | |
Aber offensichtlich ist die Grenze der Gewaltanwendung nicht sauber zu | |
ziehen. | |
Bernd: Nein, weil man nicht alle kontrollieren kann. In Genua waren | |
Militante aus vielen Ländern da, die sehr unterschiedliche Erfahrungen | |
haben, die kaum auf einen Nenner zu bringen sind. | |
Ist die Gefährdung der Bürger, die über der brennenden Bank leben, also der | |
Kollateralschaden, der in Kauf zu nehmen ist? | |
Martin: In der BRD ist es Konsens, dass zum Beispiel solche Aktionen mit | |
den Banken in Wohnkomplexen nicht laufen. Wir müssen nun zur Kenntnis | |
nehmen, dass für Leute aus anderen Ländern dieser Konsens so nicht | |
existiert. | |
Einer Minderheit ist es also erlaubt, Gewalt auszuüben. Dasselbe Recht | |
nehmen auch gewalttätige Skinheads für sich in Anspruch. | |
Martin: Und Joschka Fischer nimmt sich das Recht, Jugoslawien bombardieren | |
zu lassen, und die taz legitimiert das. Was soll die Frage? Ich hatte | |
bisher das Gefühl, dass wir uns mit dem nötigen Respekt begegnet sind. Alle | |
wissen, dass die in aller Regel zielgerichtete Militanz der Autonomen und | |
die menschenverachtende mörderische Gewalt der Nazis, die Minderheiten und | |
Schwächere attackieren und dabei bewusst Menschen töten, nichts miteinander | |
zu tun haben. Wir greifen keine Schwächeren an, sondern ein | |
mörderisch-formiertes System, das uns auf den Straßen seine gut bewaffneten | |
und ausgerüsteten Büttel entgegenschickt. Wir können natürlich auch einen | |
langen Diskurs über Gewalt im Allgemeinen und strukturelle Gewalt im | |
Besonderen führen. Die Frage ist eine dumme Provokation. | |
In Deutschland können Sie sehr genau kalkulieren, wie die Eskalationsstufen | |
zwischen Militanten und Polizei verlaufen, wo die Grenzen sind. In Göteborg | |
und in Genua hat die Polizei geschossen. Gibt es für Sie eine Grenze der | |
Militarisierung der Konfrontation? | |
Bernd: Ganz klar. Dort, wo geschossen wird, ist die Grenze. Der bewaffnete | |
Kampf ist nicht unser Ding. Wir werden uns wegen der Schüsse in Göteborg | |
und in Genua nicht bewaffnen. Aber damit ist unser Konzept, aber auch das | |
von Tute Bianche, an Grenzen gestoßen. | |
Haben Sie eine mögliche Eskalation der Aufrüstung auf Seiten der Autonomen | |
im Griff? | |
Bernd: Eigentlich nicht, da wir nicht so koordiniert sind. Wir müssen auf | |
die Vernunft der einzelnen Leute setzen. | |
Was bedeutet die Erfahrung von Genua für Ihre Zusammenhänge in Berlin? | |
Martin: Die Bullen in Berlin haben sich ganz klar von dem | |
Schusswaffengebrauch distanziert. Sie haben gesagt, ein Berliner Bulle | |
hätte in dieser Situation nicht geschossen. Das ist eine interessante | |
Aussage, weil sie sagen: Bitte werft uns nicht mit den italienischen | |
Kollegen in einen Topf. | |
Es sieht so aus, als hätte die Polizei in Genua die Gewalt erst eskalieren | |
lassen, um dann einen Vorwand zu haben, zuzuschlagen. Haben Sie sich | |
funktionalisieren lassen? | |
Bernd: Es kann natürlich sein, dass unter den Militanten Zivilbullen waren | |
wie auf jeder Demo. Aber ich glaube nicht, dass Berlusconi den Krawall | |
gewollt hat. Der wollte doch einen großen, glanzvollen Gipfel und nicht, | |
dass in den ersten zwanzig Minuten der Nachrichten der Krawall gezeigt wird | |
und er an den Rand gedrängt ist. | |
Es ist in den letzten Jahren etwas still um die Autonomen geworden. | |
Erwarten Sie nun Zulauf von jüngeren, erlebnisorientierten Aktivisten? | |
Bernd: Ich denke, dass die Auseinandersetzung nicht nur über die | |
Gewaltfrage sondern darüber, was Globalisierung überhaupt heißt, zunehmen | |
wird. Themen wie Weltwirtschaft, die Rolle der multinationalen Konzerne, | |
die Rolle des Nationalstaats, die werden die Leute nun stärker | |
beschäftigen. | |
Wir werden sehen, ob sich daraus auch eine neue Bewegung für die Autonomen | |
ergibt. Es ist zunächst auch nicht so wichtig, dass die Autonomen zunehmen, | |
wichtiger ist es, dass es entschiedene Gegner und Gegnerinnen der | |
Durchkapitalisierung aller Lebensbereiche gibt. | |
Sie würden also noch nicht von der Geburt einer neuen Protestgeneration | |
sprechen? | |
Martin: Eine neue Generation gibt es sicherlich, allein deshalb, weil der | |
Widerstand über viele Länder hinweg vernetzt ist. Das ist eine neue | |
Qualität. Ob daraus eine neue Bewegung heranwächst, muss sich erst noch | |
zeigen. Ich hoffe das natürlich. | |
Das Marketing der Autonomen ist miserabel, sie wirken so verbissen, so | |
hermetisch, so freudlos . . . | |
Bernd: Die Autonomen haben kein Gesicht. Das ist in der Mediengesellschaft | |
ein Dilemma. Wir müssen wieder mehr Gesicht zeigen und | |
Widersprüchlichkeiten nach außen tragen. | |
Martin: Unsere Partys sind aber im Allgemeinen recht lustig. | |
1 Aug 2001 | |
## AUTOREN | |
HEIDE OESTREICH / EBERHARD SEIDEL | |
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