# taz.de -- Ein Bild sagt mehr als tausend Tote | |
> Erkundungen an den Grenzen des Wachstums: Der brasilianische Fotoreporter | |
> Sebastião Salgado gibt den sozialen Folgen der Globalisierung ein | |
> Gesicht. Sieben Jahre arbeitete er an seinem dokumentarischen | |
> Mammutprojekt „Migration“. Das Deutsche Historische Museum in Berlin | |
> zeigt eine Auswahl | |
von DANIEL BAX | |
Eine großformatige Straßenszene aus dem zerstörten Kabul hängt im Eingang | |
zur Ausstellung „Exodus“ des Fotografen Sebastião Salgado, aus aktuellem | |
Anlass. Denn seit die US-Bomben auf Afghanistan niedergehen, sammeln sich | |
die Flüchtlingstrecks an den Grenzen zu den Nachbarländern: eine humanitäre | |
Tragödie, die derzeit im Zentrum weltweiter Aufmerksamkeit steht. Sein Bild | |
hat Salgado allerdings schon vor einiger Zeit festgehalten. Es hätte aber | |
vermutlich auch noch in der vergangenen Woche so aufgenommen werden können. | |
Der Wille der Ausstellungsmacher zur Aktualität ist verständlich, aber er | |
wird dem Fotografen nicht ganz gerecht. Denn Salgado ist eigentlich kein | |
Kriegsreporter. Zwar war er schon in einigen Krisenregionen der Welt | |
unterwegs. Doch er kommt meist, wenn die meisten seiner Kollegen schon | |
längst wieder wo anders sind. Oder er fährt dorthin, wo die meisten nicht | |
hinwollen. | |
Sebastião Salgado schafft sich lieber seine eigene Aktualität. Das | |
übergreifende Thema, dem er sich in den letzten Jahren gewidmet hat, ist | |
von fast schon zeitloser Natur: Es ist die große Wanderung, wie Hans Magnus | |
Enzensberger sie nannte, die sich nun schon seit Jahr und Tag vollzieht und | |
langsam, aber sicher das Gesicht der Erde verändert. „Migration“ hieß der | |
Bildband, den Salgado im vergangenen Jahr dazu veröffentlichte, und | |
„Exodus“ die dazugehörige Ausstellung, die seit Mittwoch in Berlin Station | |
macht. Es sind Erkundungen an den Grenzen des Wachstums. Sieben Jahre lang | |
war Salgado für dieses dokumentarische Mammutprojekt unterwegs, neun Monate | |
im Jahr, in über 40 Ländern rund um den Globus. Dafür braucht man nicht nur | |
einen langen Atem. Sondern auch finanziellen Rückhalt. | |
„Ich bevorzuge es, in eigener Sache zu arbeiten“, sagt Sebastião Salgado, | |
der zur Eröffnung seiner Ausstellung nach Berlin gekommen ist. Mit seiner | |
Baseball-Mütze und seiner legeren Weste wirkt der kahle Fotograf wie ein | |
großer Junge und in den klassizistischen Räumen des Deutschen Historischen | |
Museums ein wenig verloren. „Wenn man einen Auftrag akzeptiert, dann | |
akzeptiert man gewöhnlich auch den Blickwinkel des Auftraggebers. Es ist | |
besser, seine eigene Perspektive zu haben, sagt er. | |
Den Luxus weitgehender Unabhängigkeit kann sich Salgado heute leisten. Der | |
Autodidakt, der sich 1973 dazu entschied, seine Passion zum Beruf zu | |
machen, gilt heute als Global Player seiner Zunft, dessen Arbeiten in allen | |
großen Zeitschriften der Welt publiziert worden sind – Ausgaben von Stern, | |
Paris Match und anderen Magazinen liegen in Berlin exemplarisch in einer | |
Vitrine aus –, und fast ständig sind gleich mehrere Wanderausstellungen von | |
ihm zeitgleich rund um den Globus unterwegs. | |
Meist trifft Salgado Vereinbarungen mit mehreren Auftraggebern, um die | |
Finanzierung seiner Vorhaben im Vorfeld zu sichern. Manchmal aber fängt er | |
auch einfach schon mal an, und der Rest regelt sich später. So arbeitet er | |
schon länger an einer Geschichte über das Ende der Polio-Krankheit, die ihm | |
nun der Stern abgekauft hat. | |
Nicht nur aus Zeitschriften und Magazinen kennt man Salgados Bilder, auch | |
über eine ganze Reihe von Menschenrechts- und anderen humanitären | |
Organisiationen finden sie Verbreitung. Sie nutzen seine Fotos, um Werbung | |
zu machen für sich und ihre Arbeit, oder um Spenden zu aquirieren. Salgado | |
ist diese Verwendung nur recht: „Für mich sind Bilder heute die einzig | |
wahre universelle Sprache“, sagt er. „Aber alleine können sie nicht viel | |
ausrichten. Erst wenn sie über Zeitungen und andere Medien eine | |
tausendfaches Publikum finden, können sie wirkungsvoll werden. Die Welt, in | |
der wir heute leben, ist eine Medienwelt, eine Informationsgesellschaft. | |
Wenn du nicht sichtbar bist, existierst du nicht.“ Ein Bild sagt eben mehr | |
als tausend Tote in einer Statistik. | |
Soch pragmatische Sicht der Dinge erwarb sich Salgado zunächst in einer | |
anderen Brache, schließlich begann er seine berufliche Laufbahn einst als | |
Ökonom. Nach einem Wirtschaftsstudium in São Paolo arbeitete er dort ein | |
Jahr beim Finanzministerium, um anschließend für die International Coffee | |
Organization nach London zu ziehen. Eine Stelle bei der Weltbank schlug er | |
dann jedoch aus. Stattdessen entschied er, sich als freier Fotograf in | |
Paris zu versuchen. | |
„Als ich nach Paris kam, habe ich mich bei verschiedenen Magazinen | |
angeboten und am Anfang alle Arten von Aufträgen angenommen.“ Berühmt wurde | |
er völlig unverhofft, durch ein eher untypisches Foto: Als Ronald Reagan | |
knapp einem Attentat entging, stand Salgado am Seiteneingang des Hotels in | |
Washington, wo der Anschlag passierte, und drückte den Auslöser. | |
Doch schließlich landete er bei der Sozialreportage. „Anfangs wusste ich | |
nicht genau, warum, doch nach einiger Zeit wurde es mir klar“, sagt er. | |
„Ich komme aus Brasilien, einem Land mit großen sozialen Problemen, und | |
habe mich als Ökonom mit sozialen Realitäten und Fragen der Weltwirtschaft | |
beschäftigt. Diesem Thema bin ich im Grunde bis heute treu geblieben.“ | |
Mit seinen Arbeiten wurde Salgado zum Ikonografen der Globalisierung: Seine | |
Bilder zeigen die sozialen Folgen von Landflucht und Verstädterung, von | |
Krieg und Migration in den unterschiedlichsten Regionen der Welt. Es sind, | |
etwas didaktisch, Variationen des gleichen Motivs: Ob es nun entvölkerte | |
Bergdörfer in Ecuador sind, deren männliche Bewohner als Teil des globalen | |
Wanderproletariats in der Stadt abgetaucht sind, oder die Wucherungen der | |
Mega-Cities in Asien und Lateinamerika – Salgado geht es um die Parallelen. | |
So findet er im mexikanischen Grenzort Tijuana und der spanischen | |
Küstenstadt Tarifa, zwei Brennpunkten des Wohlstandsgefälles zwischen Nord | |
und Süd, vergleichbare Bilder, oder in den Hongkong und Palästina, wo ganze | |
Generationen in Flüchtlingslagern aufgewachsen sind. | |
Die Ausstellung spiegelt aber auch lichtere Momente seiner Arbeit: Die | |
Rückkehrer in Mosambik, die nach dem Ende des 30-jährigen Bürgerkriegs in | |
ihre Heimat zurückkommen, deutet Salgado selbst als Hoffnungszeichen dafür, | |
dass auch in Afghanistan einmal Ähnliches wieder möglich sein könnte. Seine | |
Sympathien liegen ganz offensichtlich bei den sozialen Bewegungen | |
Lateinamerikas: bei den Zapatisten in Mexiko und bei der Landlosen-Bewegung | |
in Brasilien, die er vor einigen Jahren mit dem Projekt „Terra“ aktiv | |
unterstützt hat. „Das Buch hatte einen großen Effekt. Wir haben eine Reihe | |
von Ausstellungen und Vorführungen gemacht, ungefähr 3.500 an der Zahl, und | |
Poster-Kits hergestellt: eine Box mit 50 Postern, die an Schulen verteilt | |
wurden, an Gewerkschaften und humanitäre Organisationen. Der brasilianische | |
Songwriter Chico Buarque hat Stücke dazu beigesteuert, und der | |
Schriftsteller José Saramago einen sehr interessanten Text für das Buch | |
geschrieben“, resümiert Salgado stolz den Dienst, den er der Bewegung | |
leisten konnte. „Für micht ist die Landlosen-Bewegung die wichtigste | |
soziale Bewegung, die Brasilien im letzten Jahrhundert hervorgebracht hat. | |
Sie hat hunderttausende von Farmern erreicht, und die Gesamtfläche, die | |
ihre Kooperativen jetzt bekommen haben, wächst immer noch.“ | |
Salgados direktes Engagement ist symptomatisch für den Fotografen, der sich | |
ganz der Tradition des aufklärerischen Fotojournalismus verpflichtet fühlt | |
und der Fotolegenden wie Robert Capa und W. Eugene Smith zu seinen | |
Vorbildern zählt – von Letzterem stammt das Zitat, Fotoreporter sollten | |
„jenen eine Stimme geben, die selbst keine haben“. Solches Pathos schlägt | |
auch bei Salgado durch, der sich deswegen mehr als einmal den Vorwurf der | |
Sozialromantik gefallen lassen musste. Tatsächlich wirken sein ästhetisches | |
Kalkül, die Dramatik, Wirkung seiner harten Kontraste zuweilen etwas | |
aufdringlich. Auch wenn Salgado dies als zwangsläufigen Effekt erklärt, der | |
sich aus dem starken Gegenlicht der Tropen ergebe, so ist doch deutlich: | |
Subtilität ist seine Sache nicht. Das zeigt sich auch an seinen | |
panoramischen „Migration“-Bildern, deren Wucht schier überbordend wirkt, | |
wie Massenszenen aus einem Monumentalfilm. Das gibt Salgados Bildern etwas | |
Unzeitgemäßes: Sie wirken ein wenig wie Relikte aus der Zeit der großen | |
Illustrierten wie Life, die ihre Seiten mit großen Fotostrecken füllten, | |
bevor ihre Ära in den 70ern zu Ende ging. | |
Andererseits kann man argumentieren, dass Salgados etwas altmodische | |
Ästhetik durchaus die adäquate Form ist, um Arbeitsverhältnisse und | |
Lebensbedingungen abzubilden, die oft wie aus einer anderen Zeit anmuten. | |
„In einem Schwellenland wie Brasilien gibt es einen industriellen Sektor | |
und einen Dienstleistungssektor, die sehr modern und entwickelt sind. Aber | |
es gibt auch den primären Sektor der Landwirtschaft, der geradezu | |
mittelalterliche Züge trägt“, sagt Salgado dazu. Der Mensch, so sieht er | |
ihn, ist ein Produkt dieser Verhältnisse, und seine Bilder symbolisieren | |
das: Der Einzelne ist Treibsand im Fluss globaler Kapitalströme. Seine | |
Persönlichkeit wirkt dagegen, selbst aus der Nähe betrachtet, letztlich | |
eher sekundär. | |
Könnte er sich nicht vorstellen, als Ökonom bei der Weltbank oder anderswo | |
mehr Einfluss nehmen zu können auf die Veränderun der Lebensverhältnisse in | |
der Welt? „Das hat mich noch nie jemand gefragt – und ich mich auch nicht�… | |
wehrt Salgado diesen Gedanken ab. „Würde ich bei der Weltbank oder einer | |
anderen Organisation arbeiten, dann wäre ich bloß ein Teil eines | |
bürokratischen Systems. Fotos dagegen haben eine weit größere Macht. “ | |
Sebastiao Salgado: „Exodus. Flucht und Heimatlosigkeit 1994–2000“. Die | |
Ausstellung läuft bis zum 27. 11. im Deutschen Historischen Museum in | |
Berlin. Der Bildband „Migration“, bei Zweitausendeins erschienen, kostet | |
99,- DM | |
12 Oct 2001 | |
## AUTOREN | |
DANIEL BAX | |
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