# taz.de -- Das verlorene Paradies der Boheme | |
> Vegetarier, Naturmenschen, Esoteriker, Künstler und die Schickeria der | |
> Metropolen bevorzugten die vielfältige Tessiner Kulturlandschaft am Lago | |
> Maggiore. Von der Vegetarierkolonie zum Rentnerparadies. Spurensuche in | |
> Ascona | |
von CHRISTIAN SAEHRENDT | |
Ascona! Woran denken Sie beim Klang dieses Namens? An das angejahrte | |
Opelfabrikat oder an den Ort am Lago Maggiore? Würden Autos heute noch | |
„Taunus“, „Granada“ oder „Ascona“ getauft werden – auf Namen einer | |
kontrollierten Exotik, Sehnsuchtsziele, die mit ein oder zwei Tankfüllungen | |
zu erreichen wären? Wohl kaum. Doch als Opel 1970 sein neues | |
Mittelklassemodell „Ascona“ nannte, entsprach das dem Zeitgeist. Ascona | |
versprach so lange Glamour und Exotik, bis sich alle in ihre Autos gesetzt | |
hatten, die Alpenpässe überwanden und sich am Ziel gegenseitig auf die Füße | |
traten. | |
Heute ist Ascona, wie viele andere Ziele des Massentourismus, immer noch | |
ein schöner Ort, doch sind Schönheit und Banalität nun untrennbar | |
miteinander verbunden. Eine perfekte Infrastruktur, exzellenter | |
touristischer Service, verkehrsberuhigte Zonen, pittoreske Städtchen plus | |
Sonne, Palmen, ein tiefblauer See und schneebedeckte Berge wirken wie die | |
Computersimulation eines Touristikunternehmens. Wer könnte ahnen, dass | |
diese Idylle einmal Anarchisten, Rohkost-Aposteln, Höhlenmenschen und | |
Avantgardekünstlern als Refugium gedient hat? | |
Das linksliberale Bürgertum und das intellektuelle Klima in Locarno und | |
Lugano hatten schon vor 1900 „Freie Geister“ angezogen. So lebte der | |
anarchistische Revolutionär Michael Bakunin um 1870 mehrere Jahre in | |
Locarno und sammelte Gesinnungsgenossen um sich. Der Wanderprediger Gustav | |
Gräser rief schon 1900 seine Mitstreiter an den Logo Maggiore: „Hier findet | |
man Menschen – auch langhaarige –, vegetarische Pensionen etc. Kommet zu | |
uns!“ | |
Die Siedlerkommune Monte Verita bei Ascona wurde die berühmteste Kolonie | |
von Lebensreformern, gegründet 1901 vom belgischen Industriellensohn Henri | |
Oedenkoven und der Musikpädagogin Ida Hofmann. Die Vegetarierkolonie mit | |
ihren selbst gebauten Wohnhütten und einem großen Gästehaus existierte bis | |
1909, auf ihrem Höhepunkt lebten 30 bis 40 Menschen auf dem Gelände. Trotz | |
des Scheiterns des Experiments und der Aufgabe des kommerziellen | |
Sanatoriumsbetriebs nach weniger als zehn Jahren zog die Kommune tausende | |
von Gästen und Schaulustigen an, die die „natürliche“ Lebensweise in | |
„Lufthütten“ und „Reformkleidung“ und die im Adamskostüm arbeitenden … | |
tanzenden Bewohner aus der Nähe studieren wollten. Bis in die frühen | |
Dreißigerjahre zogen der Ruf und das Milieu Asconas zahlreiche illustre | |
Gäste, zunächst vor allem Künstler, an. So kamen u. a. die Maler Alexej | |
Jawlensky und Marianne von Werefkin, die Tänzerinnen Mary Wigman, Charlotte | |
Bara und Isadora Duncan, die Schriftsteller Hermann Hesse und Erich Maria | |
Remarque, der Psychoanalytiker C. G. Jung, Dadaisten wie Hans Arp und Hans | |
Richter, Expressionisten wie Karl Schmidt-Rottluff, Albert Müller und Hans | |
Scherer. | |
Die ursprüngliche Konzeption der Gründungsgruppe Oedenkoven, Hofmann, Karl | |
und Gustav Gräser, auf dem sukzessive erworbenen Gelände eine Obstplantage, | |
ein Sanatorium und eine Musikschule zu errichten, scheiterte bis 1909 an | |
internen Streitereien. Die Protagonisten kamen kaum dazu, ihre neue | |
Lebensart zu genießen und vorzuführen, denn sie wurden von Gästen und | |
Neugierigen belagert. Das kommerziell verwertbare Interesse an einer | |
praktischen Demonstration der neuen Lebensreform war so groß, dass das | |
Sanatorium schon 1905 in eine Hotel umgewandelt wurde. Auch nachdem | |
Oedenkoven 1909 den Betrieb eingestellt hatte, konnte das nachfolgende | |
„Kurhotel Monte Verita“ des Bankiers Eduard von der Heydt noch lange vom | |
Ruf der Kommune zehren. Tatsächlich war die propagierte Lebensweise der | |
Kommunarden äußerlich weit spektakulärer als im alltäglichen Miteinander, | |
das von Streitereien um Arbeitsteilung und Profite, von Eifersucht und | |
Intrigen geprägt war. | |
So wurden Postkarten produziert und in Umlauf gebracht, die nackte | |
Kommunarden bei der Gartenarbeit zeigen. Die Kleiderordnung sah wallende | |
Reformkleider für die Damen, weite Hemden, russische Pluderhosen und langes | |
Haupt- wie Barthaar für die Herren vor. Das Gründungsmitglied Gustav Gräser | |
kleidete sich beipielsweise in eine Tunika über Kniehosen, trug Sandalen | |
ohne Socken und ein ledernes Diadem im schulterlangen Haar. Laut Ida | |
Hofmann sollen Kinder vor ihm niedergekniet sein, im Glauben, der Heiland | |
erscheine ihnen. Okkulte Veranstaltungen wie „Lichtmessen auf der | |
Parzivalwiese“ und der Heil versprechende Aufenthalt in Oedenkovens | |
„Salatorium“ versprachen Künstlern und anderen „Suchenden“ reichhaltige | |
Inspirationen und Heilung von allen möglichen Übeln. | |
Die Kolonie Monte Verita wird bald zum Kristallisationspunkt der | |
vielfältigen Tessiner Kulturlandschaft am Lago Maggiore. Zahlreiche | |
bildende Künstler, Schriftsteller und Weltverbesserer siedelten sich in | |
dieser Region an oder besuchten sie. In Minusio erbaute der Baltendeutsche | |
Elisar von Kupffer seinem homoerotischen Jünglingskult einen Tempel. In | |
diesem „Sanctuarium Artis Elisarion“ pflegte sich von Kupffer auch mal | |
probeweise auf sein bereitstehendes Totenbett zu legen oder posierte nackt | |
im Garten als Bacchus oder heiliger Sebastian. Ein von ihm gemaltes | |
Wandbild, aus der Apsis seines Tempels, ist heute auf dem Monte Verita zu | |
sehen. | |
Einen Besuch auf den Brissagoinseln sollte man auch auf keinen Fall | |
versäumen. Nachdem die Inseln einer Dynamitfabrik als sicheres Domizil | |
gedient hatten, kaufte 1885 die russische Baronin Antonietta de Saint-Leger | |
die Inseln. Die exzentrische Gastgeberin von James Joyce, Harry Graf | |
Kessler und Cosima Wagner legte dort einen subtropischen Garten an. Bis | |
heute prägen Dattelpalmen, Eukalyptus, Papyros, Agaven, Lotos und | |
Ginkgobäume die Vegetation. Das Haus der Baronin ist nicht mehr erhalten, | |
dafür ein prächtiger neoklassizistischer Palazzo, den der neue Besitzer der | |
Inseln an seiner Stelle errichten ließ. Der Hamburger Kaufhausbesitzer Max | |
Emden hatte der bankrotten Kosmopolitin die Immobilie abgehandelt und | |
verlebte dort einen bukolischen Lebensabend. | |
In den Zwanzigerjahren zieht die Gegend, nun reich gesegnet mit | |
Vegetariern, Naturmenschen, Esoterikern und Künstlern, die Schickeria der | |
Metropolen an. Der Wuppertaler Bankier Eduard von der Heydt kauft 1926 den | |
ganzen Monte Verita, lässt von Emil Fahrenkamp ein modernes Flachdachhotel | |
darauf setzen und richtet dort seine Kunstsammlung und sein persönliches | |
Refugium ein. Zeitweilig sorgen Gerüchte für Unruhe, von der Heydt handele | |
als Strohmann des exilierten Kaisers Wilhelm, doch die Schweizer Behörden | |
vereiteln rechtzeitig die Ankunft des Hohenzollern. Er bleibt bis zum | |
Lebensende in Doorn, während sich seine Söhne durchaus in Ascona tummeln. | |
Die Dreißigerjahre bringen weitere Zuwanderer und Gäste, darunter viele | |
intellektuelle Emigranten aus Nazideutschland. Gleichzeitig dauert der | |
Luxustourismus an, dient Ascona den Finanziers, Industriellen und Verlegern | |
des Dritten Reichs als Ferienort, an dem sie Transaktionen, Waffenhandel | |
und Geheimdiensthändel besorgen können, während die Nazipresse im Reich | |
gegen das „ausschweifende Leben“ der jüdischen Exilanten hetzt. | |
Nach der Zäsur des Krieges wird das Tessin zunächst Rückzugsort vieler | |
Schriftsteller wie Alfred Andersch, Max Frisch, Max Horkheimer oder Erich | |
Maria Remarque. Doch mit dem Wirtschaftswunder der Fünfziger und Sechziger, | |
der Motorisierungswelle und der wachsenden Italiensehnsucht der Deutschen | |
gerät Ascona ins Gravitationsfeld des Massentourismus. 1962 stirbt mit | |
Hermann Hesse der herausragendste Schriftsteller Asconas, ein Jahr später | |
folgt ihm Karl Vester, der letzte Naturmensch, der in seiner Lufthütte auf | |
dem Monte Verita alle Moden überstanden hatte. | |
Ascona häutet sich, bekommt ein neues Image. Es wird zum Schlagerparadies, | |
zur Kulisse einer massenmedial reproduzierten Südsehnsucht. Schauspieler, | |
Sänger und Schlagerproduzenten wie Udo Jürgens, Heidi Kabel und Karel Gott | |
bringen neuen Schwung. Reich gewordene Bauunternehmer, Hochstapler und | |
Autohändler folgen ihnen. Einige spektakuläre Mordfälle und Schweizer | |
Gesetze, die die Geldwäsche durch Immobilenkauf zu unterbinden suchen, | |
dämmen die Massenbewegung zwar ein, können sie aber nicht stoppen. | |
Wohlhabende Deutsche und Deutschschweizer siedeln sich zu tausenden an. Die | |
bekannte Wahlkampfsatire Klaus Staecks – „Arbeiter, die SPD will euch eure | |
Villen im Tessin wegnehmen!“ – nimmt 1972 diese Klientel aufs Korn. | |
Heute ist es ruhig geworden in Ascona, die Villenbesitzer sind in die Jahre | |
gekommen, im Stadtbild dominieren, gerade im Herbst, die älteren Semester, | |
aber Angeberautos verstopfen immer noch die Straßen. Ascona ist sicher | |
einer der schönsten Orte der Welt, um alt zu werden, und schlägt Florida | |
und Marbella um Längen. Und all denjenigen, die verächtlich über die | |
„Rentnerschwemme“ reden und für die Menschen über 49 keine „relevante | |
Werbezielgruppe“ mehr sind, sei gesagt: An Orten wie Ascona zeigt sich nur | |
etwas früher, wie die Gesellschaft von morgen aussehen wird, und zwar im | |
günstigsten Fall und unter angenehmsten Bedingungen. | |
13 Oct 2001 | |
## AUTOREN | |
CHRISTIAN SAEHRENDT | |
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