# taz.de -- The making of … K 77 | |
> Vor zehn Jahren wurde die Kastanienallee 77 besetzt. Prominente, | |
> Politiker und sogar die Polizei unterstützten die Aktion. Bis heute üben | |
> die Bewohner Kommune. Eine Innensicht von außen | |
von GEREON ASMUTH | |
Das rote Kreuz leuchtet an der Fassade. Geschätzt sieben mal sieben Meter. | |
An der Dachrinne flattern Mullbinden im Wind. Baustadtrat Matthias Klipp | |
(Grüne) hat eine Kiste Bier spendiert. Und wir sitzen vor unserem Haus, | |
euphorisch, in Feierlaune. | |
Am Nachmittag des 20. Juni 1992 waren wir vorgefahren mit dem „Omnibus für | |
direkte Demokratie in Deutschland“ – eine weiß gekleidete Truppe, das | |
„NotärztInnenkomitee der Vereinigten Varben Wawavox“. Das alte Haus lag im | |
Sterben, wir transplantierten ein neues Herz und kündigten an, uns weiter | |
um den Patienten zu kümmern, für hundert Tage und darüber hinaus. Keine | |
Besetzung, sondern eine Kunstaktion sei das Fassadentheater, erklärten wir | |
der Polizei. Und ein befreundeter Anwalt wies den Einsatzleiter darauf hin, | |
dass er laut „Berliner Linie“ des Senats eine Neubesetzung zwar umgehend | |
räumen müsse, aber die Freiheit der Kunst sei doch wohl wichtiger als eine | |
Verwaltungsvorschrift. Die grünen Viren zogen ab, die Operation war vorerst | |
geglückt. | |
Neubesetzungen waren damals – 1992 – eigentlich schon längst wieder | |
Geschichte. Zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung im Oktober 1990 waren | |
in Ostberlin innerhalb weniger Monate rund 130 leer stehende Häuser bezogen | |
worden. Doch schon im November 90 hatten tausende Polizisten aus dem ganzen | |
Bundesgebiet die 12 besetzten Häuser in der Mainzer Straße in | |
Friedrichshain geräumt. Daran zerbrach die damalige rot-grüne Koalition im | |
Senat – und der große Traum von einer neuen Besetzerbewegung. | |
Doch an der Hochschule der Künste gab es noch ein kleines Grüppchen von | |
StudentInnen, die nach einer anderen Form des Protests suchten, abseits der | |
üblichen Latsch-Demos. Wir wollten das kreative Potenzial der Besetzer | |
zeigen, natürlich mit einer Ausstellung, natürlich in einem besetzten Haus. | |
Die Idee lag auf der Hand: „Hausbesetzung ist Kunst.“ Aus den ersten drei | |
Häusern flogen wir schon nach wenigen Stunden wieder raus. Aber das war uns | |
immer Erfolg genug. | |
Und nun, anderthalb Jahre später, durften wir plötzlich in der K 77 | |
bleiben. Am „Runden Tisch Instandbesetzung“, einer basisdemokratischen | |
Institution aus Wendezeiten, verhandelten wir zwei Jahre lang: unter der | |
Leitung von Pfarrer Hans-Dieter Winkler mit Bezirkspolitikern, der Polizei, | |
Sanierungsträgern, der das Haus verwaltenden Wohnungsbaugesellschaft WiP, | |
den Alt- und später den Neueigentümern. Wir verkauften uns als die netten | |
Künstler von nebenan, die das älteste Wohnhaus in Prenzlauer Berg retteten, | |
auch wenn es irgendwann hieß, dass es noch ein älteres Haus im Bezirk gebe. | |
Als der neue Eigentümer Hans Kirchenbauer am 13. Oktober 1993 einen | |
privaten Räumtrupp mit Rammböcken und Kettensägen schickte, hatten wir | |
selbst die Polizei auf unserer Seite. Sie stoppte den brutalen Einsatz. Die | |
Bezirksverordnetenversammlung verurteilte die „kriminelle Aktion“. | |
Bausenator Wolfgang Nagel forderte Kirchenbauer zu Verkaufsverhandlungen | |
auf. Kultursenator Ulrich Roloff-Momin bot sich als Vermittler an. | |
Und wir hatten monatelang ein neues Bild an der Fassade: Die Kettensäge, | |
die das Herz zerstört. Die Kiezzeitung Scheinschlag schrieb damals, | |
Kirchenbauer habe Ärger mit seiner Schwiegermutter, weil sein Name über dem | |
Bild prangte. Fakt ist: Als Kirchenbauer das Haus im Juni 94 schließlich an | |
„Umverteilen! Stiftung für eine, solidarische Welt“ verkaufte, die es | |
wiederum dem von uns gegründeten Kulturverein für 50 Jahre in Erbpacht | |
überließ, wollte er das Bild haben. | |
Unterdessen versuchten wir die K 77 als „soziale Plastik“ einzurichten. | |
Nach sechs Jahren Leerstand war das Haus kaum mehr als eine Ruine, ohne | |
Strom, Gas oder Wasser, die Fenster zugemauert oder vernagelt. Doch weil in | |
der Nachbarschaft die Sanierungswut begann, gab es Materialien zuhauf. | |
Rausgeschmissene Öfen und Fenster wurden recycelt, Strom ließ ein | |
freundlicher Nachbar abzapfen, mit Möbeln wurden wir regelrecht überhäuft. | |
Wir mussten gar einen „Sofastopp“ beschließen. | |
Schwieriger war das Beleben des Freiraums. Mathias wollte einen Ort für | |
eine „Freie Internationale Universität“, frei nach Joseph Beuys, andere | |
suchten einfach nur Atelierraum. Marion wünschte eine politische Kommune. | |
Letztlich setzte sich die Riesen-WG durch. 25 Menschen, die sich Küche und | |
Bad teilen. | |
Wie das gehen sollte, wusste eigentlich keiner. Wir mussten es im Alltag | |
erfahren. Beim Einkauf verlangt man Käse nicht mehr grammweise, sondern | |
kauft halbe Laibe. Wer Jogurt essen will, muss mindestens eine ganze | |
Palette beschaffen, um wenigstens einen abzubekommen. Dafür kann man den | |
ganzen Tag in der Küche sitzen und erfährt alles über anstehende Demos und | |
Partys, die neue Liebschaft von X und Y oder Gregors Theorie, nach der | |
jeder Bewohner nur ein Viertel von dem für den Haushalt tun müsste, was er | |
in einer Einzimmerwohnung leisten würde, um hier im blitzenden Paradies zu | |
leben. Es blitzte nicht, im Gegenteil. Auf dem wöchentlichen, dem Konsens | |
verpflichteten Plenum dominierte das anarchische Element. Doch seit es | |
einen Kochplan gibt, versuchen die Donnerstagsköche die Mittwochsgruppe | |
kulinarisch zu übertrumpfen. | |
Im Rückblick vergoldet sich gern die Vergangenheit. Dabei war längst nicht | |
alles eitel Sonnenschein. Während der Sanierung in Selbsthilfe wurden etwa | |
vier Millionen Mark verbaut. Rund 80 Prozent davon zahlte das Land aus dem | |
Topf für Selbsthilfeförderung. Den Rest mussten wir durch Eigenleistung | |
erbringen. Bis zu 50 Stunden pro Monat ackerten alle drei lange Jahre auf | |
der Baustelle. Fast alle. Der Rest hieß Plenum. | |
Dort debattierten wir mit Inbrunst auch stundenlang über jede Türklinke. | |
Oder die Gestaltung des neuen Gemeinschaftsbades. Arne und Mathias | |
präsentierten ein Modell. Das Wasserparadies sieht heute ganz anders aus. | |
Aber auf der Außenseite des Pappmodells stand „Flugreisende und | |
Selbstfahrer“, irgendein Ausriss aus einem Werbekarton. Der Spruch prangt | |
nun akkurat in Gold gesetzt auf der Brandwand, wie nach langer Diskussion | |
beschlossen. Genauer gesagt, fast wie beschlossen. Als das Gerüst abgebaut | |
wurde, standen rechts und links jeweils über zehn Meter hohe Strichfiguren | |
an der Wand. Georg hatte zugeschlagen. Mal wieder. Immerhin hatte er | |
Goldfarbe genommen. Er grinste. Die Kunst, so sein Argument, ist frei. | |
Viele Streitpunkte lassen sich einfacher bewältigen als in einer WG mit | |
Normalgröße. Denn Missstände können bei 25 Bewohnern nur selten an | |
einzelnen personalisiert werden. Manchmal hilft es schon, die | |
Gesprächsstrukturen zu ändern. Etwa durch das Matriarchat, das ein paar | |
Wochen das Plenum regierte – einfach um es mal auszuprobieren. Es gab aber | |
auch Konflikte, die sich festfraßen. Über den Pegelstand am Spülberg, | |
Haustiere, Umgang mit Gästen, Partys unter der Woche. Einige endeten gar | |
mit Rausschmiss oder Auszug, auch meinem. | |
Vor dem Haus sitzt heute die dritte Generation der Bewohner und genießt mit | |
Freunden die wiederbelebte Volksküche. Nur vier der ursprünglichen Besetzer | |
haben die zehn Jahre durchgehalten. Pfarrer Winkler ist längst in Pension, | |
Matthias Klipp Geschäftsführer des Sanierungsträgers Stern, und die anderen | |
besetzten Häuser wurden legalisiert oder sind geräumt. Die | |
Selbsthilfeförderung hat der rot-rote Senat faktisch abgeschafft. | |
Die Veteranen kramen die alten Geschichten hervor und nerven die Neuen mit | |
Anfällen von Sentimentalität. Dieser Text ist einer davon. Besucher | |
begeistern sich nach einer Hausführung für die Küche, in der man „für 80 | |
Leute kochen kann“, oder den Garten auf dem Dach. Aber wie sie es aushalten | |
sollten, mit so vielen Leuten zusammenzuleben, bleibt ihnen unvorstellbar. | |
„Es geht nur mit Liebe“, meinte eine Bewohnerin neulich. Später stellte sie | |
im Plenum die Wochen zuvor im Konsens beschlossene Zimmerrotation infrage. | |
Alle paar Jahre werden die Räume unter den Bewohnern, deren Ansprüche | |
wechseln, neu verteilt. Nur passt ihr ein Umzug gerade nicht in den Kram. | |
Es folgt eine nervenaufreibende Diskussion. Dabei wollte man eigentlich das | |
10-Jahres-Fest besprechen. Es geht nur mit Liebe. | |
„Kunst. Kommune. Kapital.“ Ausstellung über 10 Jahre K77, täglich ab 17 U… | |
bis 30. Juni. Haus- und Hoffest am Samstag, 22. Juni, alles in der | |
Kastanienallee 77, Prenzlauer Berg | |
21 Jun 2002 | |
## AUTOREN | |
GEREON ASMUTH | |
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