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# taz.de -- Magerkost vom Unfeinsten
> Von der Fußball-Weltmeisterschaft 2002, einem Turnier mit vielen
> Überraschungen, viel Kampf, aber ohne jeden Esprit, wird kaum etwas
> haften bleiben. Am besten, man fängt noch mal von vorne an
von MATTI LIESKE
Bei den alten Ägyptern herrschte die Sitte, missliebige Pharaonen nach
deren Ableben einfach aus den Annalen zu tilgen. Ihre Namenshieroglyphen
wurden fein säuberlich aus Obelisken, Stelen und Reliefs entfernt und es
war so, als hätten sie niemals gelebt. Warum machen wir es mit dieser
Fußball-WM nicht einfach auch so? Sorry, Leute, war ein Irrtum, nichts für
ungut, wir versuchen es einfach noch mal. Wenn man das gleiche Turnier in
drei Monaten erneut spiele, dann würden ganz andere Mannschaften in der
Vorrunde ausscheiden, ist der Londoner Fußballweise Arsène Wenger
überzeugt. In drei Monaten hätten die meisten Kicker aber keine Zeit, also
Vorschlag zur Güte: Alle treffen sich nächstes Jahr an gleicher Stelle und
machen es diesmal richtig. Das hätte dann auch den Nebeneffekt, dass sich
die ganzen riesigen Investitionen in die neuen Stadien in Japan und
Südkorea ordentlich gelohnt hätten.
Aber bitte keine Missverständnisse. Nicht etwa das Ausscheiden vieler so
genannter Favoriten in mehr oder weniger frühen Phasen des Turniers oder
gar die Finalteilnahme eines mit den welkesten Vorschusslorbeeren aller
Zeiten nach Asien gereisten deutschen Teams sind es, welche diese WM zu
einer derart schrecklichen machen. Da kann man es durchaus mit dem anderen
Fußballweisen Johan Cruyff halten, dem solche Vorkommnisse enormen Spaß
bereiten. Dem Unterhaltungswert der Veranstaltung verleiht der boshafte
Niederländer daher die Note 2, eine glatte 4 bekommt sie jedoch für die
fußballerische Qualität. Und hier liegt der Hase im Pfeffer, oder besser:
der Ball im Tor. Oder eben gerade nicht.
## Diouf und ein Dreizack
Auch wenn man keine Hieroglyphen wegmeißelt, wird von dieser
Weltmeisterschaft kaum etwas in Erinnerung bleiben. Bis zum Finale kein
einziges großes, dramatisches und dabei hochklassiges Spiel, kaum
Einzelaktionen oder Spielzüge, die länger als bis zum Schlusspfiff haften
bleiben. Ein paar Dribblings vom Senegalesen Diouf, die spärlich
verstreuten Geistesblitze des Brasilien-Dreizacks Rivaldo, Ronaldo,
Ronaldinho, die Golden Goals von Ahn, Camara und Mansiz. Dabei war der
Anfang mit dem 1:0-Sieg des Senegal gegen Titelverteidiger Frankreich in
einem ansehnlichen Match recht viel versprechend. Aber dann gab es zwar
noch spektakulären Angriffsfußball beim 5:2 zwischen Brasilien und Costa
Rica, als es für die Brasilianer um nichts mehr ging, das surreale 8:0 von
Völlers Saudihaudis, ein paar couragierte Auftritte der Gastgeber Japan und
Südkorea sowie den Schocker USA–Portugal. Der Rest war fußballerische
Magerkost vom Unfeinsten. „Selten guter Fußball“, klagt Platini,
„armselig“, schimpft Menotti. Die wenigen Klassiker wie Argentinien–Engla…
oder England–Brasilien schmeckten schal, selbst die Favoritenstürze kamen
nicht in heißen Partien von hoher Qualität zustande. Sie wurden mühsam
ermauert von Töftings Dänen gegen ein pfostenverliebtes Frankreich oder von
hölzernen Schweden gegen nervenschwache Argentinier, dennoch das beste
aller angetretenen Teams. Doch wenn immer die Besten gewinnen würden, sagt
Rudi Völler sehr korrekt, wäre Brasilien schon zehnfacher Weltmeister.
Statt edlem Fußball gab es unsägliche Schiedsrichterdiskussionen nach dem
Aus für Italien, Spanien und die ebenso tritt- wie zeterwütigen
Portugiesen.
Bei aller Schadenfreude war es natürlich höchst bedauerlich, dass mit
Frankreich, Argentinien, Costa Rica und Nigeria der Offensivfußball
frühzeitig gute Nacht sagte, erstickt in den Defensivschemen moderner
Prägung. Abgesehen von den beiden Gastgebern, die vom eigenen Publikum nach
vorn getrieben wurden, bis sie Kraft und Mut verließen – die Japaner im
Achtelfinale, Südkorea im Halbfinale –, hatten fast alle Mannschaften von
vornherein auf Destruktion und Defensive gesetzt. Dahin der offensive Geist
und Schwung von 1998; mit dem neuen Wundermittel, einer sehr mobilen
Fünferkette im Mittelfeld, wurde erst einmal versucht, die gegnerischen
Kombinationen, die in Frankreich für so viel Vergnügen sorgten, im Keim zu
ersticken, den Ball zu sichern und per Konter oder Standardsituation das
eine Tor zu erzielen, das oft genug zum Sieg reichte. Da die besten
Mannschaften inzwischen läuferisch und kämpferisch auf ähnlichem Niveau
spielen, waren es oft die kleinen Sachen, die über Wohl und Wehe
entschieden. Ein Schiedsrichterpfiff, ein Pfostenschuss, ein Kopfball zur
rechten Zeit. Wie der Spanier Ruben Baraja ganz richtig bemerkte
(allerdings vor dem Spiel gegen Südkorea): „Wenn wir genug Tore schießen,
brauchen wir über den Schiedsrichter nicht zu reden.“ Natürlich wurde über
den Schiedsrichter geredet.
## Tore aus dem Nichts
Dass durchschnittliche Mannschaften mit einem guten Torwart und der
Fähigkeit, aus dem Nichts heraus einen Treffer zu erzielen, weit kommen
können, haben in der Vergangenheit die Tschechen 1962, Engländer 1966,
Italiener 1982 oder die deutschen Finalteams von 1982 und 1986 bewiesen.
Insofern ist das Abschneiden des Völler-Teams bei der Struktur dieser WM
gar nicht so überraschend, wie es scheint. Noch weniger war es die
Besetzung des Viertelfinales, in dem nur vier europäische Teams standen,
bloß eines aus Südamerika, dafür je ein Vertreter aus Afrika, Asien und
Nordamerika. Schon vor vier Jahren in Frankreich waren Mannschaften wie
jene aus Marokko, Südafrika, Japan, Iran, Mexiko den Europäern und
Südamerikanern tendenziell ebenbürtig, scheiterten jedoch an ihren Nerven.
Diesmal manifestierte sich die neue Hierarchie auch in der Besetzung der
späteren Runden. Dass sie in den etablierten Ländern noch nicht realisiert
wurde, zeigten die Kommentare von dort. In Spanien, dessen Team außer Raúl
keinen echten Weltstar zu bieten hatte, wurde genüsslich vorgerechnet, wie
leicht doch der Weg zum Finale sei bei Gegnern wie Slowenien, Paraguay,
Südafrika, Irland, Südkorea. Dass jemand in Seoul möglicherweise sagen
könnte: „Oh toll, Spanien im Viertelfinale, wir hätten ja auch Südafrika
bekommen können“, darauf kommt in Madrid und Barcelona keiner.
## Komplett desorientiert
Typisch auch die Hü-und-Hott-Rezeption des DFB-Teams in Deutschland. Nach
dem 8:0 gegen inferiore Araber in den Himmel gelobt, danach sukzessive in
Grund und Boden verdammt, nach dem schmucklosen Sieg gegen Südkorea
plötzlich wieder heilig gesprochen. Die Orientierung ist komplett verloren
gegangen, was sich besonders in der überzogenen Kritik nach dem 1:0 gegen
die USA widerspiegelte. Da war einer akzeptablen ersten Halbzeit eine
lausige zweite gefolgt, zu wenig angesichts der überhöhten Erwartungen.
Eine erstklassige Mannschaft wie unsere muss eine drittklassige wie die USA
doch vom Platz fegen, so der Tenor. Es spielten jedoch in Wahrheit zwei
zweitklassige, vom Talent ziemlich ebenbürtige Mannschaften gegeneinander.
Normalerweise gewinnt dann der mit der besseren Organisation und dem
größeren Willen, doch ein guter Keeper, die Fähigkeit, aus dem Nichts ein
Tor zu machen, und ein Quäntchen Glück ließen es diesmal anders enden.
Die Freunde taktischen Fußballs mögen dem in Asien präsentierten
Kollektivstil, der auf immenser Laufkraft und Zweikampfstärke basiert,
durchaus etwas abgewinnen können, Fakt bleibt: Er ist stocklangweilig, denn
er zielt auf die Verhinderung genau dessen, was den Fußball liebenswert
macht: packende Strafraumszenen, mitreißende Kombinationen und die
Entfaltung individueller Brillanz. Natürlich sind es theoretisch auch in
Zeiten des herrschenden Kraftfußballs immer noch die Superstars, die den
Unterschied bedeuten können, wie sich ansatzweise bei Brasilien zeigt.
Dass die meisten großen Lichter untergingen, ist die besondere Tragik des
Turniers. Wenn schon der Kuchen missraten ist, sollten wenigstens die
Sahnehäubchen munden. Doch ob wegen Verletzung, wie bei Beckham, Zidane,
Raúl, Figo, oder unglücklichen Turnierverlaufs wie bei Aimar, Verón, Eto‘o,
Totti, Del Piero, Roy Keane, Rui Costa – glänzen konnten am Ende nur Oliver
Kahn und Brasiliens Dreigestirn. Den dicksten Patzer leistete sich Spaniens
Coach Camacho. Er ließ den genialen Raúl auf der Bank, obwohl der trotz
leichter Verletzung spielen wollte und auch vom Teamarzt grünes Licht
bekam. Camacho glaubte, gegen Südkorea auch so locker zu gewinnen. Eine
Arroganz, wie sie heutzutage grausam bestraft wird. Sollte übrigens noch
ein treffender Name für die WM 2002 gesucht werden – hier ist er: Töfting.
28 Jun 2002
## AUTOREN
MATTI LIESKE
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