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# taz.de -- Die Anmut des Müllheruntertragens
> Die Familie und wie es gelingt, sie zu überleben: Heute erscheint der
> Roman „Die Korrekturen“ des amerikanischen Schriftstellers Jonathan
> Franzen. Mit großem Witz und noch größerer Unerschrockenheit seziert er
> menschliche Beziehungen
von DIRK KNIPPHALS
„Fail with consequence, lose with eloquence and smile.“
The Notwist
Erzählerische Umwege spielen in diesem Roman eine Rolle. Leisten auch wir
uns einen Umweg.
Kürzlich hatte ich 20-jähriges Abiturtreffen. Was für Geschichten da in dem
Saal des Landgasthofes herumstanden! Viele der etwa neunzig ehemaligen
Mitschüler hatten sich tatsächlich seit zwanzig Jahren nicht gesehen. Einer
war in die Dominikanische Republik gezogen, einer nach Australien, zwei
sollen in die Drogenszene abgeglitten sein, ein, zwei (bei einem wussten
wir es nicht definitiv) waren schon gestorben, ansonsten 08/15-Biografien:
Verwaltungsangestellte, Ingenieure, Hausfrauen, Ärzte. Aus den
Wuschelköpfen und Schönheitsköniginnen, Klassenclowns und Aschenputteln von
damals waren dann doch erwachsene (und hier und da in die Breite gegangene)
Enddreißiger geworden.
Selbstverständlich setzte bald das große Erzählen ein. Wie geht es dir? Was
machst du? Wo wohnst du? Immer wieder dieselben Fragen. Aber genauso
selbstverständlich stieß das Erzählen an Grenzen. Wie konnte man schon an
einem Abend vermitteln, was alles geschehen war? Zwanzig Jahre! Jedenfalls
tauchte irgendwann dieser Gedanke im Hinterkopf auf: Diese Geschichten
dürfen doch nicht verloren gehen! Es sollte jemand kommen und sie
aufschreiben!
Nur, wer sollte das schon tun können?
Es müsste jemand tun, der sich in die verschiedensten Normalbiografien
hineinversetzen kann. Der weiß, was für ein Drama es ist, wenn – nur zum
Beispiel – eine Frau sich nach 17 Jahren von ihrem Partner trennt, und
welche alltäglichen Abenteuer des Aneinandervorbeilebens diesem Schritt
vorausgegangen sein können. Der einen Sinn hat für die Lyrik selbst des
Müllruntertragens, wenn man nur sein Leben beruflich auf gerade Gleise
gesetzt zu haben meint. Der hinter der Prosa des Alltäglichen die nie
kommunizierten Ängste und größenwahnsinnigen Fantasien aufzuspüren vermag.
Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, erzähl ihm von deinen Plänen,
lautet ein mexikanisches Sprichwort. Wer aber von diesen Plänen und was aus
ihnen wurde erzählen wollte, müsste sich selbst den lächerlichsten Winkeln
eines Lebens mit großer Sorgfalt nähern. Er dürfte nicht prüde sein und
müsste, Hand aufs Herz, selbst den banalsten Selbstlügen gegenüber Demut
aufbringen. Und vor allen Dingen müsste er sich mit ingrimmiger Erzählwut
auf die vielen, vielen Zwischentöne stürzen, die erst das jeweils
Individuelle ausmachen.
Kurz: Jonathan Franzen müsste es tun. Und in gewisser Weise hat er es
bereits getan.
Jonathan Franzen (und hier endet der Umweg) wurde 1959 im amerikanischen
Mittleren Westen geboren. Um den Anfang der Neunzigerjahre herum schrieb er
zwei Romane, die ehrenvoll untergingen. Dann nahm er sich neun Jahre Zeit,
um den 781 Seiten kurzen Roman „Die Korrekturen“ zu verfassen, der heute
auf Deutsch erscheint. Um dies Buch geht es.
Natürlich hat Franzen keine Norddeutschen beschrieben, sondern Menschen aus
dem amerikanischen Mittelwesten. Aber er hat es auf so raffinierte Weise
getan, dass der auf dem Abitreffen aufkommende Wunsch, das Gewöhnliche
zugleich dargestellt und verklärt zu sehen, aufs Schönste erfüllt wird.
„Die Korrekturen“ folgen dem zugegeben hippiesk anmutenden Grundsatz, dass
noch das normalste Leben interessant ist, wenn man es nur gekonnt genug
ausleuchtet. Wobei allerdings gleich hinzugesetzt werden muss, dass das
Normale hier als der permanente Ausnahmezustand und Gefühlsnotstand
erscheint, mit dem man bei realen Zusammenkünften doch hinterm Berg hält.
Zunächst sind „Die Korrekturen“ ein (bitte nicht gähnen) Familienroman.
Erzählt wird aus dem Leben des alt gewordenen Paares Enid und Alfred
Lambert, dessen Dasein durch die Parkinson-Erkrankung des Mannes getrübt
wird. Und erzählt wird das Schicksal ihrer drei Kinder, die in der Phase
angekommen sind, in der das Eingeständnis des totalen Scheiterns nicht mehr
ausgeschlossen ist.
Im Genre der Familienromane sind „Die Korrekturen“ allerdings nun das
denkbar familienfeindlichste Buch, das man sich denken kann. „Ich hasse
Familie. Ich hasse Heimat“, sagt Denise, die Tochter, an einer Stelle. Und
ihre beiden Brüder Gary und Chip haben so ihre Momente, in denen sie ihr
aus vollster Überzeugung zustimmen würden. Der Zusammenhalt der Familie
erscheint hier über weite Strecken nur noch als ein großes Hirngespinst,
das aus irgendeinem Grund nicht aus dem Kopf der Mutter weichen will.
Die Familie selbst ist, von Jonathan Franzen mit bösem Blick bis ins
Feinste ausgemalt, ein Bedingungsverhältnis, in dem jedes Mitglied seine
eigenen Überlebenstechniken entwickeln muss: Denise übererfüllt jede Norm,
Chip probiert sich in Flucht und Trotz, und Gary, der Älteste, entwickelt
Techniken, die ihn als Erwachsenen stets am Rand der Depression
entlangsegeln lassen werden: „Jeden Abend nach dem Essen feilte er an der
Kunst, etwas Langweiliges zu ertragen, das einem Elternteil Freude
bereitete.“
Gibt es das Subgenre des familienfeindlichen Familienromans? Wenn ja, muss
diesem Roman sofort die Position des liebevollsten Buchs zugewiesen werden.
Selbst Enid, der Mutter, nun wirklich ein in ihrer Unbewusstheit feinen
Aggressions-Regen sprühender Drache, gesteht Franzen rührende – und sehr
komische – Szenen zu. Auf einer Kreuzfahrt gerät sie an einen Bordarzt, der
ihr Partydrogen verschreibt. Was dazu führt, dass sie leer staunend dem
Flug ihres Mannes folgt, der an ihrem Fenster vorbei ins Wasser stürzt (und
wieder gerettet wird): „Denn wer hätte je geahnt, mit welcher Anmut der
wütende Mann fallen würde?“ Sowieso eine der vielen Lieblingsstellen in
diesem Buch.
Ziemlich genau im Zentrum des sorgfältig gebauten und mit vielen, vielen
Querverweisen arbeitenden Romans steht eine Episode aus den
Sechzigerjahren, als Alfred, der Vater (und dilettierender
Schopenhauer-Leser), noch Furcht erregend und überlebensgroß war. Vorher
und nachher wird die Gegenwart ausbuchstabiert. Anhand der Lebensläufe der
drei Geschwister geht es dabei vor allem um die subtilen Stufen des
Unglücklichseins und die verschiedenen Grade des Scheiterns.
Chip wird ein verkrachter Intellektueller mit ständigen Geldsorgen:
„Heteros gegenüber kannte er schon lange nur noch zwei Reaktionen: mit
Missgunst gepaarte Angst vor den Erfolgreichen oder Flucht vor Ansteckung
durch die Versager.“ Denise gelingt es, zuerst einer Affäre mit ihrem Chef
auszuweichen, ihn dann aber mit seiner Frau zu betrügen, um dann
schließlich doch noch mit dem Chef ins Bett zu gehen, woraufhin sie von
beiden verlassen wird (und Franzen gelingt das Kunststück, diese
emotionalen Kapriolen glaubhaft zu vermitteln). Und Gary wiederum, dessen
„ganzes Leben als eine Korrektur des Lebens angelegt war, das sein Vater
führte“, findet schlussendlich seine Freude im Hobby eines
Modelleisenbahners. Was ihn zur Karikatur seines Vaters macht. Der war
Eisenbahningenieur.
Irrungen und Wirrungen. Gemischte Gefühle. Einübungen in die
Selbstwidersprüchlichkeit. Stellenweise auch eine ins Tragikomische
kippende Trauerarbeit über verpasste Chancen. Dies alles wird mit vielen
Umwegen erzählt, in einer Mischdramaturgie aus langen sprechenden Szenen
und raffenden, berichtenden Passagen. Da die Episoden zudem mit
Randbemerkungen über die Neunzigerjahre verknüpft sind, wird zugleich ein
Panorama der Neunzigerjahre ausgerollt. Und siehe, das Jahrzehnt kommt
nicht gut dabei weg.
Als wolle Franzen hier einen Konservatismus unterbringen, den er beim
Familienthema zum Glück ganz und gar nicht zeigt, erheben die Topoi der
Materialismus-, Oberflächlichkeits- und Medienkritik ihr Haupt. Enid: „Sie
hatte das Gefühl, sie und Al seien die einzigen intelligenten Menschen
ihrer Generation, die es geschafft hatten, nicht reich zu werden.“ Doch die
Ansätze zum Gesellschaftsroman bleiben eher unausgeführt. Auch wenn man
ganz nebenbei mit dem Buch ein wahres Archiv für Mode-, Ess-, Sex- und
Erziehungsstile in den Neunzigern in Händen hält.
Im Mittelpunkt jedoch stehen unangefochten die menschlichen Beziehungen der
Hauptfiguren. Auch wenn sie noch so mürbe und widersprüchlich, noch so
gefährdet und kompliziert erscheinen, behandelt Jonathan Franzen sie wie
große Kostbarkeiten, die es bis ins Letzte zu studieren gilt. Für die
Unerschrockenheit und den Witz, mit denen er das tut, kann man spätestens
auf einem Abiturtreffen dankbar sein.
Jonathan Franzen: „Die Korrekturen“. Aus dem Amerikanischen von Bettina
Abarbanell. Rowohlt Verlag, Reinbek 2002. 782 Seiten, 24,90 €
28 Jun 2002
## AUTOREN
DIRK KNIPPHALS
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