Gelobet seien die Freunde

    Der  Alte  ließ ihn an der Via delle Capannacce aus dem Wagen.
    Eklige Kreuzung, schlecht einzusehen, aber zu dieser Tageszeit
    fuhr kaum ein Fahrzeug vorbei. Hier in der Kurve, von der  die
    kleine,  schmale Straße Richtung Casciana Alta abzweigt, hängt
    kein Spiegel, mit dem  man  Einsicht  bekäme.  Doch  der  Hund
    musste dort hinein, denn er folgte seinem Instinkt, der ihn zu
    seinem  Rudel  bringen  sollte.  Also musste der Hund höllisch
    aufpassen, um nicht einem Unfall zum Opfer zu fallen. Der Fiat
    hielt in der Kehre am rechten Rand neben der Einfahrt zum Hin‐
    terhof des Hauses, das an der Via del Commercio lag. Der  zot‐
    telige Köter sprintete los in die Stichstraße. Der Alte winkte
    ihm  noch  einmal zu und sah ihm mit seinem warmherzigen Blick
    nach. Dann trat er aufs Gas, und die  Beschleunigung  katapul‐
    tierte  den  Kleinwagen in Richtung La Capannina. Der Hund ga‐
    loppierte, und die Ohren flatterten. Er fühlte sich frei.  Und
    wäre  er  ein  Vogel,  so  flöge er, und wäre er ein Fisch, so
    schwömme er. In seinem Oberstübchen formten sich plötzlich an‐
    dere Laute als das gewohnte Bellen. Was war das  noch?  «Fisch
    schwimmt,  Vogel fliegt, Mensch läuft.» Er wurde langsamer. Es
    dehnt sich in ihm. Es reißt ihn auseinander.  Und  es  staucht
    ihn an manchen Stellen zusammen. Ich wachse! Ich bin ich. Ich,
    eins  von vielen Ichen. Ihn streift der Bambus, der am rechten
    Straßenrand in den Weg hineinragt. Jetzt  wird  er  langsamer.
    Und geht – aufrecht. Wie von Zauberhand bekleidet, steht er da
    in  seiner  alten Funktionsklamotte, und so fand sich Kampmann
    wieder. Unwillkürlich musste er an Mirzam Bleu denken. Sie war
    eine Animaga, und er war vor  vielen  Jahren  fast  schon  un‐
    sterblich in sie verliebt. Er hatte sie im Großen Vaterländis‐
    chen  Krieg  an  der  Front im damals so genannten Nahen Osten
            kennen gelernt. «Bin ich jetzt auch so einer?»

    Kampmann ging. Er erreichte den Abzweig Via  Pietrapagana.  Da
    fiel  ihm  alles  zuvor  Vergessene wieder ein. Sein Instinkt,
    dieser vegetativ operierende, untrügliche  Reiseführer  durchs
    Leben, verließ ihn, wurde schweigsam, und der Verstand und das
    Gedächtnis  konstruierten  aus den Daten seiner Sensorik, dass
    er nun den etwas beschwerlichen Aufstieg  nach  Casciana  Alta
    vor  sich hatte. Es durchströmte ihn das Gefühl von Zufrieden‐
    heit, als er in die Hügel um ihn herum schaute. Er sah das An‐
    wesen von Il Swizzero, er sah den Reiterhof,  die  Gemüseplan‐
    tage.  Er  hörte den Kettentraktor hinter dem Kamm hin zu Cas‐
    ciana Terme pflügen und fragte sich wie immer, ob das wirklich
    die einzig ökonomische Art ist, diese mageren  Äcker  auf  die
    kommende  Aussaat  vorzubereiten. Er spürte den Schotter durch
    die Sohlen seines festen Schuhwerks. Jetzt erst  nahm  er  die
    Hitze des Tages wahr. Na klar, es geht steil bergan. Zum Swiz‐
    zero  werde  er später gehen, versprach er sich. Erst brauchte
    er die Lagebotschaften.

    Er kam nach gut zehn Minuten schwitzend in der Serpentine  an,
    in  der ein Nachrichtenbaum stand. Man konnte nie sicher sein,
    was man mitnehmen sollte. Maurizio sagte damals,  als  er  das
    erste  Mal  hierher  geschickt worden war: «Wenn du es siehst,
    siehst du es, und weißt du, dass du es nehmen  musst.»  Dieses
    verschwurbelte  Orakeln hasste er eigentlich, aber diesem sym‐
    pathischen Schnurrbartträger, der da gebeugt von den  Jahrhun‐
    derten  auf  diesem Planeten vor sich hin sinnierte, konnte er
    jene  scheinbar  mystifizierende  Sprechmarotte  nicht   krumm
    nehmen.  Jedesmal sagte er sich, Recht habe der Alte. Hatte er
    ja auch. Und außerdem kannte der sich hier am besten  aus.  Er
    kam ursprünglich aus der Zwerggalaxie Canis Major im Sternbild
    des  Großen Hundes ca. 25 000 Lichtjahre vom Sonnensystem ent‐
    fernt. Maurizio gehört zu einer Spezies  von  Humanoiden,  die
    sehr  empfindlich  auf  Schwerkraftveränderungen reagiert. Und
    das war der Grund, warum er irgendwann die Beine in  die  Hand
    genommen hat und seine Heimat verließ, denn die Gezeitenkräfte
    der  Milchstraße wirken immer stärker auf das Gebilde ein. Ist
    ja über die Jahrmillionen nicht zum Aushalten.

    Dieses Mal erkannte er die sich stets  verändernde  Konstella‐
    tion  sofort.  Es  war eine übertrieben korrekte Anordnung aus
    vier Feigen, die wie die Himmelsrose an der Beobachtungsstelle
    in alle vier Richtungen zeigte. Das war dann ja mal sehr  ein‐
    fach.  Sagte  Kampmann  sich, griff in die Anglerweste, die er
    damals von Beuys, als der besoffen in der  Ecke  vom  Ratinger
    Hof  mit Xaõ Hüttenschneider knutschte, geklaut hatte, und zog
    sein Opinel, trennte die Früchte vom Baum und steckte  sie  in
    seine große Rückentasche. Derart equippiert, machte sich Kamp‐
    mann  wieder  auf  den Weg bergan. Viel hatte er nicht mehr zu
    laufen, dann würde er  sich  mit  Maurizio  in  den  Hinterhof
    seines  Hauses  verkriechen,  oder nein, besser, sie würden in
    seinen Olivenhain  spazieren  und  dort  bei  einem  ehrlichen
    Tröpfchen  Chianti auf die alten und die neuen Zeiten anstoßen
    und alles andere regeln. Und dann.

    Soundtrack: Holger Hiller, Oben im  Eck,  Mute,  INT  146.825,
    Stumm 38

    Matthias Kampmann