Sie waren Puppen aus Licht. Alle Mitfahrer waren das. Er stieg
ein, hatte das Paratron übergeworfen, ging durch ein, zwei
Waggons, fand einen Platz in der dritten Klasse und quetschte
sich neben den nach Frittenfett, Fischkonserve, Schnaps und
Kippen stinkenden, dicken Kerl, der ihn weder beachtete noch
Platz machte. Kampmann hatte sich mit einer herzlichen Umar‐
mung von Dressler verabschiedet und ihm alles Gute gewünscht.
Er nötigte ihm Respekt ab. Wie nur konnte man es in dieser
Zeit aushalten? Die Liebe war es jedenfalls nicht, die den
Weisen im Zeitfenster zwischen 1933 und 1945 gefangen hielt.
Und dass er masochistisch veranlagt gewesen wäre, ließ sich
nicht unbedingt behaupten. Aber was soll’s, dachte sich Kamp‐
mann. Dr. Karsch verlangte die Rückkehr, Büttner tourte weit‐
erhin vortragend in den United States of Amnesia, das Tempo‐
ralphänomen Urlaubsbombe konnte nicht erzeugt, geschweige denn
gezündet werden, also was hielt ihn noch hier? Zurück wollte
er sowieso, da er den Totalitarismus gestrichen satt hatte.
«Dann doch lieber gegen den Klimawandel kämpfen, anstatt hier
verbohrte Deutsche und andere kollaborierende Europäer daran
hindern, menschenverachtende Handlungen zu begehen.» Was sich
so entnervt anhörte, sprach Kampmann aus reinem Respekt vor
Dressler mit dem gehörigen Pathos laut vor sich hin. Sein
ekelerregender Nachbar nahm nicht einmal Notiz davon. Typisch
Nazis, dachte Kampmann. Er hatte andere draußen an der Wag‐
gontüre kleben sehen, eindeutig auf den eigenen Profit
spekulierend und dabei Wartende ohne Uniform unterdrückend.
Wieder andere Uniformierte rauchten in Nichtraucherabteilen.
Diesen Herren war alles, was Mitmenschen betraf, die keine
Hakenkreuze trugen, egal. Nein, hier war alles unerträglich.
Kampmann freute sich auf den Moment, wenn er daheim endlich
ins Bad gehen, sich schlussendlich der elenden, verhassten
Uniform im Transformator entledigen und einfach wieder in
seine ganz normale Kombination steigen würde. Jetzt saß er
allerdings erst einmal noch zwischen den Leuten, roch die
Gerüche jedes einzelnen massiv und leidend und fragte sich,
wie er es mit diesem blöden Zug in seine Zeit schaffen sollte.
Aber er vertraute Dressler, und er vertraute Dr. Holger
Karsch. Jeder seinem Vermögen gemäß, dachte er sich. Und
plötzlich ruckte der Zug an, quietschte, als sei er aus Al‐
teisen, und los ging die Fahrt.
Also und so verging eine Weile. Und Kampmann hing noch in
Gedanken, ging noch einmal den langen Weg nach, bis zur Sam‐
melstelle und in die Baracke von Dressler hinein. Er erinnerte
sich der Männer mit den weißen Schürzen. Die standen in jener
Zeit überall herum. So, als gäbe es überall etwas zu kochen
oder zu schlachten. Was das hätte sein sollen, fiel Kampmann
beim besten Willen nicht ein. Heute wissen wir, wie unbedarft
dieser Mann durch das Leben ging. Wäre es nicht so, was wäre
dann aus der Propaganda des RDS geworden? Nun gut, jetzt saß
er erst einmal auf Anraten von Dressler in diesem gruseligen
Abteil und litt und erduldete den Gestank jener Zeit. Es war
auffällig, wie nachlässig die Nazis mit sich umgingen. Sie
schienen kein Shampoo und keine Zahnbürste zu kennen. Also
traute Kampmann sich nicht, den Mund mit den perfekt
geschrubbten Beißerchen aufzumachen. Zum Glück war Dresslers
Gilette‐Rasierer schon recht abgenutzt, so dass die Rasur
nicht perfekt war. Und ein Eau de Cologne nahm er sowieso
nicht mehr, da er unter einer Allergie litt. Dressler hatte
ihm den groben Filz vom Kopf geschnitten, so dass er nicht
mehr wie ein Lagerinsasse aussah. Denn das ewige Hin‐und‐her
in der falschen Zeit hatte Kampmann verwahrlosen lassen. Mit
den Nazis war es offenbar etwas anderes. Es schien, als sei es
die scheinbare Siegessicherheit, die dazu führte, dass sich
diese, meist männlichen Wesen nicht mehr um ihr Äußeres
scherten. «Man muss ja nicht gleich in den neuesten Armani‐
Anzügen herumlaufen, aber wenigstens sollte man reinlich sein,
wenn die Möglichkeit besteht», dachte Kampmann bei sich. Und
Möglichkeiten hatten die Nazis in ganz Europa. Noch. Also saß
er zwischen dem Stinker und anderen Stinkern. Und er konnte
nicht umhin, festzustellen, dass es von Vorteil gewesen sein
musste, nicht in dieser Gesellschaft sozialisiert worden zu
sein. Denn was wäre gewesen, wenn doch?
Kampmann schaute aus dem Fenster. Es wurde langsam dunkel. Den
Angaben Dresslers zufolge konnte es nun nicht mehr lange
dauern, bis sie die temporale Anomalie erreichten. Angeblich
sollte es ein Tunnel im Gebirge sein. Kann schon sein, dachte
er. Denn der Zug quälte sich bereits eine geraume Weile
bergan. Die tiefe Ebene mit dem breiten Fluss hatten sie schon
lange hinter sich gelassen. Vereinzelt leuchteten Häuschen an
den Hängen. Der Himmel schien bedeckt zu sein. Möglich, dass
es bald zu schneien begänne. Und er biss in grüne Stängel und
fraß sich durch wildes Blattwerk. Dieses Zeug, das da
wucherte, war so appetitlich, dass er nicht aufhören konnte.
Und der Tau, der sich in dicken Kugeln auf den langen, geboge‐
nen Halmen herabkullern ließ, ergötzte ihn so dermaßen. Und er
fraß, er fraß, und er fraß ohne Bewusstsein und Verstand. Und
da hatte er schon vergessen, warum er überhaupt unterwegs war.
Soundtrack: Joni Mitchell, Don Juan’s Wreckless Daughter, Asy‐
lum Records, BB701, Dezember 1977.