Die Skelett‐Armee
Wenn man heute, auf den grünen Hügeln von Greenwich stehend,
über die Bürotürme des Finanzzentrums der Canary Wharf in
Richtung London blickt, kann man sich nicht wirklich mehr
vorstellen, wie das Londoner East End Ende des 19. Jahrhun‐
derts mal ausgesehen haben muss.
Das Londoner East End war damals wohl das berüchtigtste
Stadtviertel von London. Es war hoffnungslos überbevölkert.
Hier lebten vor allem Einwanderer, und das Viertel war geprägt
von Armut und Kriminalität. Es gab keine Straßenbeleuchtung,
und die Luft war verpestet von dem Rauch der nahegelegenen
Fabriken, der über das East End hinweg zog. In Whitechapel ‐
einem Teil des East Ends ‐ ereigneten sich die berühmten «Rip‐
permorde» ‐ die wohl bis heute das Vorbild für alle Se‐
rienkiller Geschichten abgeben. Man kann sogar guten Gewissens
behaupten, dass im Jahre 1888 mit den Morden im Londoner East
End und der Figur des «Jack the Ripper» das Genre überhaupt
erst erfunden wurde.
Aber auch einer der ersten erfolgreichen Streiks für bessere
Arbeitsbedingungen ereignete sich 1888 im Londoner East End,
der sogenannte Matchgirls’ Strike. Die Arbeiterinnen
protestierten gegen die sehr schlechten Arbeitsbedingungen in
einer Streichholzfabrik von Bryant & May: wie den 14‐Stunden‐
Tag bei mieser Bezahlung, die unverhältnismäßigen Konvention‐
alstrafen und den unzureichenden Schutz vor den schweren
gesundheitlichen Schäden, die das Hantieren mit dem hochgifti‐
gen, zur Streichholzherstellung verwendeten weißen Phosphor
mit sich brachte. In den Streichholzfabriken war die Luft mi‐
tunter so mit Phosphor durchtränkt, dass nachts die Wände und
die Einrichtungsgegenstände zu leuchten begannen. Die Arbeit‐
erinnen erkrankten häufig an einer Phosphornekrose («Phossy»)
bei der sich im fortgeschrittenen Stadium die Kieferknochen
aufzulösen beginnen. Oft führte dies zu Amputationen des
Kiefers und zum Tode.
Das nur zur Einleitung, damit ihr Euch ungefähr vorstellen
könnt, wie hart das Leben im East End so gewesen sein muss.
Unsere Geschichte spielt ein wenig früher, und zwar beginnt
sie im August 1880 in Whitechapel.
Hier marschierte die 1878 von William (General) and Catherine
Booth (Mother) gegründete Salvation Army (Heilsarmee) auf, um
dessen Einwohner zu bekehren.
Dies wurde von den meisten Bewohnern als nicht hinnehmbare
Provokation aufgefasst. Das (Über)‐Leben war schon schwierig
genug, als dass man sich noch die «gut gemeinten» Weisheiten
der Salvation Army anhören wollte. Die war mit ihrem Motto
den drei S: «first, soup; second, soap; and finally, salva‐
tion» (erst Suppe, dann Seife und schließlich Erlösung) ange‐
treten und hoffte so die «down and outs» zu einem
gottgefälligeren Lebenswandel bekehren zu können. Diese
vorgeschlagene Lösung der sozialen Misere stieß auf wenig
Gegenliebe. Wahrscheinlich fühlte sich die Arbeiterklasse des
East End ob ihrer wahren Bedürfnisse wie zum Beispiel gut
bezahlte Jobs, menschenwürdige, hygienische Verhältnisse,
genügend und bezahlbaren Wohnraum, gesunde Lebensmittel, medi‐
zinische Versorgung, politische Partizipation etc. so von dem
Auftritt der Heilsarmee verhöhnt, dass es einfach eine Gegen‐
reaktion geben musste. Vielleicht war auch nur der religiöse
Impetus der Heilsarmee zu viel ‐ denn religiöse Eiferer mit
ihren bürgerlichen Vorstellungen und Werten konnte man hier in
Whitechapel nun wirklich nicht brauchen.
Anders lässt es sich kaum erklären, dass es im East End und im
Folgenden in ganz Süd‐England zur Gründung der Skeleton Army
(Skelett Armee) kam. Die Skeleton Army bestand aus eher lose
miteinander verbundenen Gruppen aus der Arbeiterklasse, die,
wenn möglich, die Kundgebungen der Heilsarmee störten ‐ oder,
formulieren wir es direkter, wenn möglich tätlich angriffen.
So kam es bei den eigentlich friedlich gedachten Aufmärschen
der Salvation Army wiederholt zu Tumulten und schweren Auss‐
chreitungen, oft auch mit Schwerverletzten und Toten, was die
ehernen Absichten der Salvation Army doch ziemlich hinter‐
trieb.
Die Skeleton Army persiflierte den Wahlspruch der Heilsarmee
mit ihrem eigenen ‐ den drei B: «Beer, Beaf and Bacca» (Bier,
Fleisch und Tabak). Auf ihren Fahnen waren unter anderem
Särge, Totenköpfe, gekreuzte Knochen und ähnliches abgebildet.
Außerdem veröffentlichten die Skeletons «Gazetten» voller ver‐
leumderischer, obszöner und blasphemischer Artikel. Um der
Heilsarmee überall hin folgen zu können und erfolgreich deren
Auftritte torpedieren zu können, sammelten die Gruppen der
Skeleton Army Spenden. Oft gehörten zu ihren Unterstützern ‐
ich denke auch aus berufsbedingtem Opportunismus heraus ‐
Gastwirte, Bierbrauer und Metzger. So gab es eine Weile lang
eine Pattsituation zwischen den beiden Parteien. 1893 flauten
dann die Aktivitäten der Skelett Armee plötzlich ab, bis sie
schließlich ganz aufhörten.
Nur warum haben Sie aufgehört? Darüber schweigen die Quellen.
Und hier nun, meine geduldigen Leser*innen, kommt meiner
bescheidenen Auffassung nach die RDS ins Spiel. Zugegeben: Ich
bin natürlich nur ein unbedeutender Chronist, der des Nachts
von Schlaflosigkeit geplagt, beim ruhelosen Umherwandern so
seine eigenen Schlüsse zieht. Was weiß so einer schon von der
RDS? ‐ fragt ihr euch zurecht. Aber bevor ihr diese Zeilen
aus der Hand legt, hört euch erst an, was der Schreiber zu
erzählen hat, und dann mögt ihr den Stab über ihn brechen:
Als bekannt gesetzt, kann man davon ausgehen, dass die Dudes
in London ‐ der Weltstadt des 19. Jahrhunderts ‐ aktiv gewesen
sein müssen. So wäre es möglich, dass die Skeletons damals
Kontakt zu den Dudes aufgenommen und um einen «guten Rat» im
Kampf gegen die Heilsarmee gebeten hatten. Vielleicht war es
auch die Heilarmee oder sogar beide Parteien, die sich an die
Dudes wandten. Das lässt sich heute nicht mehr eindeutig
klären. Die Dudes, von Natur aus freundlich, unterbreiteten
den beiden Parteien getreu der alten Weisheit: «Was Du nicht
besiegen kannst, das musst du umarmen» einen Lösungsvorschlag
für den Konflikt.
So kam es, dass Charles Henry Jeffries ein Offizier der Skele‐
ton Army als anscheinend Geläuterter in die Heilsarmee eintrat
und dort im Laufe seiner Karriere bis auf den dritthöchsten
Rang der Heilsarmee aufstieg. Wahrscheinlich liefen große
Teile der Skeleton Army damals, vermeintlich geläutert, eben‐
falls zur Heilsarmee über, um unter ihrem alten/neuen Commis‐
sioner Charles Jeffries weiter ihrer gerechten Sache zu di‐
enen.
So verbanden die Dudes das Irdische mit dem Himmlischen und
trugen damit entscheidend zur weltweiten Ausbreitung der Heil‐
sarmee bei. Einen Hinweis darauf findet sich auch in einer Be‐
sprechung zu einem 2019 uraufgeführten Musical auf der Web‐
seite Salvationist ‐ the voice oft he Army:
The Skeletons fight for the comforts of the present.
The Salvationists fight for the hope of tomorrow.
Caught in the middle, Charles Jeffries, a charismatic
young leader of the Skeleton Army, must decide what
side he really is on.
https://salvationist.ca/articles/skeleton‐army‐de‐
buts‐off‐broadway/
Genau! Auf beiden nämlich! Es gehört Mut und Bescheidenheit
dazu, die Widersprüche des Lebens auszuhalten, um nicht als
selbstgefälliger Betonkopf zu enden.
Und so werfe ich jedes Jahr, wenn ich das örtliche Weinfest
besuche, in Gedenken an die Weisheit der Dudes, der Heilsarmee
einen Fünfer in die Spendenbüchse. Nachtrag
1891 eröffnete die Heilsarmee im Londoner East End (Stadtteil
Bow) eine selbstgeführte Streichholzfabrik, die weniger gifti‐
gen roten Phosphor verwendete und bessere Löhne zahlte.
Soundtrack: Chumbawamba English Rebel Songs
1381‐1984,1988/2003
P.S. Auf die Skeleton Army stieß ich bei der Lektüre von Ben
Aaronovitch: die Flüsse von London, nicht der erste Krimi der
mich inspiriert hat!
M Bolee