Die Messlatte des Scheiterns in unerreichte Höhen gelegt

    Die Planungsbrache am Stadtrand schien der ideale Ort für eine
    selbst auferlegte Initiationsprüfung, um sich der Radical Dude
    Society  als  würdig  zu  erklären.  Novizin  Claire hatte die
    Brache  tagelang  beobachtet,  wochenlang,  Monate.  Fast  ein
    Jahrzehnt lang spazierte sie mit ihrem Hund jeden Tag zwei Mal
    an  der  Brache  vorbei  und  beobachtete  das  Spiel der Gum‐
    mistriemen auf Asphalt, den Müll neben  den  Bordsteinen,  die
    Glasexzesse  der  männlichen  Jugend.  Perfekt.  Als  der Hund
       starb, kaufte sie sich einen neuen und taufte ihn Manni.

    Den Namen hatte sie einmal gehört, als sie die jaulenden Autos
    beobachtete wie sie ihre Runden auf dem kleinen, nur etwa hun‐
    dert Meter langen Stück Teer drehten und dabei die Reifen  zum
    Quietschen brachten: «Mann‐nie, Mann‐nie, Mann‐nie ...» riefen
    die  Jungs  und  Mädels  einem  tätowierten  Typen zu, der mit
    seinem fein renovierten Chevrolet auf dem Asphalt hin und  her
    radierte.

    Hunde  hassen  diesen  Lärm.  Novizin Claire brauchte aber die
    Tarnung. Nach unendlich langer Beobachtung der männlichen  Ju‐
    gend  und  des  bedauernswerten  Abhandenseins von Selbstwert‐
    gefühl, das die Jungs  mit  Motorenröhren  kompensierten,  ja,
    kompensieren  mussten,  um  in  dieser harten Welt bestehen zu
    können, wusste Claire, wie sie den höchsten Dan des Scheiterns
    erlangen könnte und somit ein Mitglied der Radical Dude  Soci‐
    ety  werden  könnte.  Könnte  könnte Altersrönte. Ein bisschen
    Glück würde auch dazu gehören. Sowie, naja, die  Protagonisten
    des  Spiels,  die  männliche  Jugend,  die  sich quietschenden
    Reifens und röhrenden Motors ihren Selbstwert  erjaulten,  die
    müssten auch noch mitspielen.

    Novizin  Claire  verkaufte ihren Hund Manni an einen Nachbarn,
    der kürzlich seine Arbeit verloren hatte, sowie die Frau,  die
    Kinder  und  das  Haus  und der seither nicht mehr ihr Nachbar
    war. Sein Scheitern würde in Claires über Jahrzehnte  konstru‐
    iertem  Fachwerk  des  Scheiterns wirken wie ein Bündel Stroh,
    das man vergessen hatte mit Lehm zu tränken.

    Von dem Geld, das der Exnachbar für Manni zahlte, ließ  Claire
    T‐Shirts  drucken  in  den  Größen M, L und XL, sowie eines in
    XXL. Das würde Olli passen, einem der Jungs, die  mit  Motoren
    jaulen.

    Kleiderständer, Kasse, Wechselgeld, Anmeldung des Verkaufs von
    Motto‐Hemden  im  öffentlichen  Raum  und so stand sie denn da
    eines Abends auf der Planungsbrache voller Gummistriemen.  Die
    männliche  Jugend  trudelte nach und nach ein. Die Sonne stand
    schon knapp über dem Horizont. Ein herrlicher Tag zum  Scheit‐
    ern. Wind umschmeichelt baumelten die T‐Shirts.

    Gibt  es etwas Ehrlicheres auf diesem Planeten als Kundschaft,
    Geldbeutel, Kaufwille und eine  warmherzige  Verkäuferin,  die
    vermeintlich  genau  das  verkauft, was der Kundschaft gefehlt
    hat? Zunächst zierten sich die  Knaben,  doch  nach  ein  paar
    Bieren  näherten sie sich dem Verkaufsstand, tasteten die Ware
    und erst als einer von ihnen  eines  der  Hemden  anprobierte,
    empörten  sie  sich.  Nach  der  Empörung  folgte  die Wut und
    schließlich der blanke Hass.  Im  seichten  Licht  des  Abends
    schimmerte  auf  jedem  der T‐Shirts, auch auf dem in XXL, das
    Olli passen müsste, der schlichte  Spruch:  «Untermotorisiert,
    aber im eigenen Kopf.»

    Novizin  Claire floh, während die außer Rand und Band geratene
    männliche Jugend den Verkaufsstand zerstörte und die Hemden in
    Fetzen riss.

    Jenseits der Szene spazierte ihr Exnachbar. Manni machte  sein
    Geschäft.

    Jürgen Rinck