Begegnung mit Vergil

    Als  die  Brücke  überschritten war, wanderte Kampmann weiter.
    Lange war er unterwegs. Immer wieder passierte er  Landesgren‐
    zen.  Das  Bild,  dass sich ihm in jeder Siedlung, jedem Dorf,
    jeder  Stadt  zeigte,   war   stets   ähnlich:   Verwüstungen,
    eingestürzte  Häuser,  aber  jetzt  wieder Menschen, lebendige
    Menschen, die ganz  offensichtlich  auf  der  Flucht  zu  sein
    schienen  und  Uniformierte, die das Treiben beobachteten. Ihm
    kam es mit einem Mal vor, als gehe er nicht nur seit  Monaten,
    sondern  auch im Kreis. Es war wie eine Tag‐ und Nachtgleiche.
    Kampmann fragte sich, ob es denn nirgends einen  Ort  der  Zu‐
    flucht,  ein  Ziel  für das Ganze gebe. Diese Marienstatue da,
    hatte er sie nicht letzte Woche schon einmal gesehen? Die  im‐
    mer  noch  aufrecht  stehenden  Giebel  und die kulissenhaften
    Seitenwände der zerschossenen Häuser: eine signifikante  Mate‐
             rialkonstellation mit Wiedererkennungswert.

    Der  gebeugte Mann, der Pferdewagen. Kampmann war verzweifelt.
    Nicht nur, dass die Nazis alles in Schutt und Asche legten, er
    war offenbar in  ihren  Zeitmanipulator  versetzt  worden.  Es
    waren  jedoch  immer nur Ähnlichkeiten, niemals glich das Set‐
    ting einem anderen zu einhundert Prozent. Darauf  konnte  sich
    Kampmann   keinen   Reim   machen.  Und  die  Kriegsverbrecher
    ergötzten sich in dieser niemals aufhörenden Schleife  an  den
    Ergebnissen ihrer Missetaten, mutmaßte er. War das die Kulisse
    für  das 1000jährige Reich oder war es das vielleicht? Wie kam
    er zur Maschine, mit der sie das alles herstellten? Und wo war
    Büttner in diesem ganzen Spiel? Es kostete ihn alle Kraft, die
    Hoffnung nicht zu verlieren.

    Er schwindelte, verlor den Boden unter den Füßen, hockte  sich
    kurz  auf  das  Kopfsteinpflaster  und wusste, dass er bereits
    Aufsehen bei den Schergen erregte. Als  Kampmann  sich  wieder
    gefestigt  fühlte,  stand  er  auf,  nahm er sich ein Herz und
    sprach, mit der Hand den Schall dämmend, einen  der  Passanten
    an:  «Was ist das hier?» Die Antwort verblüffte ihn wenig. Er,
    der Fragende, sei schon an seiner Frage zu  erkennen  als  ein
    Jemand,  der  nicht hier hergehöre, und besondere Vorsicht sei
    geboten. Aber er, der Antwortende, als Vergil K. gab er   sich
    zu  erkennen,  rate ihm, so schnell wie möglich wieder zu ver‐
    schwinden. Sie seien hier kurz vor dem letzten Kreis. Es  gebe
    hier  Zyklen, die alle Beteiligten an diesem Ort und in dieser
    Zeit immer wieder durchlaufen müssten.  «Danke  schön,  bester
    Herr  K.  Sie  können sich nicht vorstellen, wie sie mir weit‐
    ergeholfen haben. Jetzt endlich verstehe ich,  wenn  ich  auch
    noch nicht sagen kann, wie ich dieses Schlamassel aus der Welt
    schaffen kann.» Doch Vergil K. schien ihn beruhigen zu wollen:
    «Das  ist  eines  Menschen  Last  zu  viel. Hast Du aber einen
    Gefährten, so wird es wahrlich gelingen,  und  wir  alle  hier
    stünden  nach  der  Vollendung  des  letzten  Kreises in Eurer
    Schuld. Wir sind mit  Geist  und  Herz  bei  Euch.»  Daraufhin
    erklärte  ihm  Kampmann,  dass  er Büttner ja erst noch finden
    müsse. Vergil K. riet ihm, zur  Sammelstelle  zu  gehen.  Dort
    solle   er   nach  den  Papieren  schauen.  Eine  verrätselnde
    Empfehlung, aber eigentlich wunderte ihn  nichts  mehr.  Diese
    Welt  war  recht  ungeheuerlich verdreht, so dass es auf einen
    weiteren Turn schon gar nicht mehr ankam.

    Matthias Kampmann

    Soundtrack: Tuxedomoon, «Ship of Fools», Cramboy,  CBOY  6060,
    1986