Die vielen Seiten des Fleißes

    Er  erinnerte  sich  noch  gut  an  die  Zeit,  als er mit dem
    Studieren begann. Das war zu Kindheitszeiten. Als er also noch
    so jung war, verschlang er jedes Buch. Nichts war ihm zu  lan‐
    gatmig,  nichts  zu  klein  gedruckt.  Was  er für seine Hirn‐
    speisung benötigte, waren lediglich eine  Sitzgelegenheit  und
    Papier,  nicht  mehr. Immer schon zog das weiße, glatte, gele‐
    gentlich  damals  auch  sehr  holzige,  raue  Papier  mit  den
    schwarzen  kleinen  Zeichen  ihn  magisch  an.  Er fragte sich
    damals noch nicht, ob es an seiner Herkunft lag. Später  hatte
    er  Antworten auf die Fragen nach seinen so genannten Wurzeln:
    dass er die Chance  hatte,  zu  lesen,  lesen  zu  lernen,  zu
    schreiben,  zu  rechnen. Er bekam die Gelegenheit des Himmels.
    Paradiesische  Möglichkeiten,  die  Menschen  in  den  meisten
    vorgängigen  Generationen gar nicht hatten. Und zu Beginn nahm
    er sie nicht wirklich wahr. Wobei: Er  hat  gelernt  und  eine
    Menge  gelernt: über sich und andere. Und dass, obschon er oft
                   nicht in der Schule aufgepasste.

    Es ist ihm irgendwann klar geworden, dass  dieses  Nichtlernen
    vielleicht sogar die Ursache dafür war, dass er viel später zu
    dem geworden war, der er wurde. Das Nichtlernen war eine Übung
    in diesem speziellen Nichtstun, das sich nach einer Weile pro‐
    duktiv  entfaltete,  nur  eben nicht in dem Sinne, der seitens
    wichtiger  Instanzen  wie  Eltern,  Schule  oder   Musiklehrer
    vorgedacht  war. Nein, das konnte er gewiss nicht: sagen, dass
    er in der Zeit,  in  der  andere  ihre  Hausaufgaben  machten,
    nichts  tat.  Natürlich nicht. Er hatte Projekte. Er bastelte.
    Er las. Dann hat er gezeichnet, gemalt, geformt. Er  hat  ima‐
    ginäre  Länder  bevölkert  und Kriege für das Gute im Menschen
    und auf der Welt geführt und gewonnen. Er baute Türme,  Häuser
    und  Dämme  und ließ alles wieder einstürzen. Und er frisierte
    seinen Teddy, schnitt ihm die Haare und rieb ihn mit  diversen
    Crèmes ein.

    Vor  allem  aber hat er gelesen. Und alle Klischees, mit denen
    man so durch die Welt geht, bestätigte er.  Auch  er  war  ein
    Mensch  mit «Kopfkino». Aber dann hat ihn die Welt doch einge‐
    holt. Wenn er heute  liest,  verbirgt  sich  seine  Ausbildung
    niemals, selbst wenn er in seiner Freizeit liest und schreibt.
    Aber das alles ist es ja nicht.

    Matthias Kampmann