Predigt in der Vesper am Heiligen Abend in der Krankenhauskirche im Wuhlgarten
Berlin am 24.12.2009 um 15.00 Uhr

Liebe Schwestern und Brueder, liebe Festgemeinde!

Was mag die Herzen der Menschen in unserem Land und auch weltweit bewegen,
wenn sich zumindest in den christlich gepraegten Gegenden die meisten Menschen
mit hektischem Getriebe, Geschenkekaufen, Plaetzchenbacken und dem Schmuecken
des Weihnachtsbaumes auf das Weihnachtsfest vorbereiten?
Kirchliche und weltliche Choere ueben Weihnachtslieder und beschenken mit
ihrem Gesang nicht nur die Menschen, die in die Konzertsaele und Kirchen
kommen, sondern auch die Kranken in den Plegeheimen und Krankenhaeusern.
Was ist das eigentlich fuer eine Sehnsucht oder Hoffnung, die uns Menschen in
den Tagen vor Weihnachten umtreibt und was oder wen feiern wir da eigentlich
am Weihnachtstage? Ich glaube, die Sehnsucht, die uns in der Weihnachtszeit
befluegelt, ist die Sehnsucht nach der Geborgenheit und heilen Welt der
Kindertage, vielleicht sogar im tiefsten Inneren die Sehnsucht nach dem ewigen
Heil und der ewigen Heimat bei Gott. Was aber feiern wir heute?

Fuer manch einen ist Weihnachten das Fest der Liebe und der Geschenke. Wer so
denkt, liegt nicht ganz daneben, hat aber den Kern des Festes noch nicht ganz
begriffen. Wer Weihnachten als Fest der Liebe und der Geschenke feiert,
drueckt damit eine ernstzunehmende Sehnsucht und Hoffnung des Menschen aus. Er
moechte geliebt und beschenkt werden und moechte auch selber andere lieben und
sie beschenken. Es leuchtet fast allen Menschen ein, dass dies ganz wesentlich
zum Menschsein dazugehoert. So erfeut sich das Weihnachtsfest auch bei denen
stetiger Beliebtheit, die den urspruenglichen Sinn dieses Festes nicht kennen.

Was ist nun das grosse Geheimnis des Weihnachtsfestes?
Den Gebildeten ist klar, dass die weltweite Christenheit heute wohl mehr
feiert als nur das Geburtsfest ihres Religionsgruenders Jesus von Nazareth.
Theologisch gesprochen feiern wir Christen heute das grosse Geheimnis der
Menschwerdung Gottes in seinem Sohn Jesus Christus. Von ihm heisst es im
grossen Glaubensbekenntnis der Kirche, wie es im Jahre 325 auf dem Konzil von
Nizaea beschlossen und im Jahre 381 auf dem Konzil von Konstantinopel
ergaenzt wurde:
"Fuer uns Menschen und zu unserem Heil ist er vom Himmel gekommen, hat Fleisch
angenommen durch den Heiligen Geist aus der Jungfrau Maria und ist Mensch
geworden."
Der Apostel Johannes hat die Menschwerdung Gottes in seinem Evangelium noch
deutlicher ausgedrueckt. Er spricht von Jesus als dem Wort, das Gott ist und
bei Gott ist, durch das alles geschaffen worden ist und das als Licht der
Menschen in die Welt gekommen ist. Von diesem goettlichen Wort sagt er:
"Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt,
und wir haben seine Herrlichkeit gesehen,
die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater,
voll Gnade und Wahrheit (Joh 1,14)."
Die Menschwerdung Gottes also ist das Geheimnis des Weihnachtsfestes.

Das Wort Menschwerdung moechte ich aber zuerst einmal nehmen, um ueber die
Menschwerdung des Menschen nachzudenken. Der Mensch ist ein Wesen im Werden.
Er ist nicht einfach ein Mensch, er muss immer noch Mensch werden. Er hat mit
dem Menschwerden ein echtes Problem und steht immer in der Gefahr, zum Tier zu
werden, hat aber andererseits auch die tiefe Sehnsucht nach Frieden in seinem
Herzen. Der Prophet Jesaja spricht hier von Woelfen, Panthern, Loewen, Baeren
und Nattern. Er malt uns dabei ein Naturparadies vor Augen, wo die grossen und
kleinen, die starken und schwachen Tiere in Frieden beieinander wohnen und
auch der Saeugling unbekuemmert leben und spielen kann. Das ist die tiefe
Sehnsucht nach Frieden, die der Schoepfer in die Herzen der Menschen
hineingelegt hat. In dieser neuen Wirklichkeit sind wir aber noch nicht
angelangt. Der Mensch und die Menschheit ist im Werden. In das Herz des
unbekuemmerten Saeuglings heute schleicht sich immer wieder die Schlange des
Boesen hinein. Der Mensch ist von allem Anfang an in seiner Menschwerdung
behindert, er ist infolge von Vorurteilen und negativen Einstellungen seiner
Eltern, Erzieher, Freunde, Nachbarn und Berufskollegen in Suenden verstrickt,
er ist erloesungsbeduerftig. In der Menschwerdung Gottes kommt Gott jedem
Menschen entgegen, um ihn zu befreien und zu foerdern, damit er Mensch werden
kann.

Was nun behindert die Menschwerdung des Menschen?
Es sind die grossen und kleinen Vertrauensbrueche der Eltern, Freunde und
Erzieher, Ablehnung, Vernachlaessigung, Missbrauch, Betrug, koerperliche und
psychologische Gewaltanwendung, ungerechte Verurteilungen und Demuetigungen
und auch die konsequente Leugnung eines liebenden Gottes, die kleine und auch
grosse Kinderherzen mehr oder weniger vergiften und das Urvertrauen in Gott
und die Mitmenschen zerstoeren. Die Folge ist: Der Mensch verschliesst sich,
achtet weder sich selbst, noch den Naechsten, will nicht mehr auf guten Rat
hoeren, will nicht mehr mit anderen zusammen spielen und arbeiten, will sich
selbst behaupten und faengt an, seine Mitmenschen zu manipulieren. Wer nicht
die gleiche Gesinnung hat, wird misstrauisch beobachtet und zum Feind
erklaert. Um die eigenen habsuechtigen und machtsuechtigen egoistische Ziele
durchzusetzen, suchen die Schwaecheren dann Gleichgesinnte und einen starken
Anfuehrer. Dass, so denke ich, ist die Wurzel des Krieges. Es beginnt mit dem
zerstoerten Urvertrauen, dass die Tuer oeffnet fuer boese Gedanken aller Art.

Was aber kann dem Menschen nun helfen bei seiner Menschwerdung?
Es ist die bedingungslose Liebe und bedingungslose Annahme durch seine Eltern,
Verwandten, Erzieher, Freunde, Nachbarn, Berufskollegen und den Ehepartner,
wenn man denn einen hat. Nur bei Menschen, die zu bedingungsloser Liebe und
vollkommener Annahme faehig sind, kann ein Mensch wieder vertrauen fassen,
kann sich oeffnen, mitteilen und zuhoeren. Nur in solchen positiven
Beziehungen kann er neue sinnvolle Lebensperspektiven erkennen, sich selbst
und andere wieder achten, sich einsetzen und engagieren fuer andere Menschen,
ohne sie zu manipulieren, er kann lernen, Gott und den Naechsten anzunehmen
und bedingungslos zu lieben, sogar bis hin zur Hingabe des eigenen Lebens. Das
waere dann Menschwerdung in hoechster Vollendung.

Gibt es aber diesen Menschen, der zu vollkommener Annahme und bedingungsloser
Liebe faehig ist? Wer moechte schon gerne sein eigenes Leben zertreten oder
sich zum Idioten machen lassen? Haben wir nicht alle unsere mehr oder weniger
weiten oder engen Grenzen, bei denen es uns reicht und wir wieder in
tierisches Verhalten zurueckfallen? Wer kann von sich sagen, dass er zu
bedingungsloser Liebe faehig ist?

Da jeder menschliche Erzieher und Freund gefangen ist in seiner eigenen
suendhaften Unvollkommenheit, braucht der Mensch zu seiner Menschwerdung und
Genesung nicht nur die Liebe seiner Mitmenschen, sondern vor allem die
bedingungslose Liebe Gottes und die vollkommene Annahme durch Gott, die ihn
immer wieder zum Vertrauen in Gott und in seine Mitmenschen ermutigt und ihm
die Umkehr zu tieferer Menschwerdung ermoeglicht.

Die Frohe Botschaft des Weihnachtsfestes ist genau dies:
Die Menschwerdung Gottes ermoeglicht die Menschwerdung des Menschen.
Der ewige Gott, der ewige Geist, der alles erschaffen hat durch sein
maechtiges Wort, hat Fleisch angenommen aus der Jungfrau Maria und ist ein
Mensch geworden, um den Kontakt mit den Menschen aufzunehmen. Die Menschen,
die auf sich allein gestellt aus seiner Perspektive verloren gehen, moechte er
zu sich rufen und ihnen eine ewige Heimat in seinem Herzen geben. Gott sitzt
nicht auf einem Thron in einem fernen Himmel, zu dem manche Menschen sich in
frommer Selbstbehauptung emporarbeiten moechten, wie wir eben in dem sehr
modernen Text von Martin Luther gehoert haben. Nein, der Himmel, das ist Gott
selbst. Und dieser Gott hat sich in seinem Sohn Jesus Christus ganz klein und
zerbrechlich gemacht, um vor allem die Kleinen und Armen, die Benachteiligten
dieser Welt zu besuchen. Sein Thron ist eine Futterkrippe und spaeter das
Kreuz. Dort kann man Gott finden. Wo Jesus ist, dort ist der Himmel in diese
Welt hineingekommen. Dieser Gott traegt durch seinen Geist die ganze Welt in
seinen Armen und neigt sich doch in Liebe herab zu den Menschen. Er wird in
Jesus unser Menschenbruder, redet auf gleicher Augenhoehe mit uns, von Du zu
Du, laechelt seinen Eltern und danach den Hirten zu, die dieses Laecheln nie
mehr vergessen koennen und aufgerichtet und als neue Menschen ins Leben gehen.
Gott hat in Jesus fuer immer die Menschennatur angenommen, einen ewigen Bund
mit der ganzen Menschheit geschlossen. Er hat die ganze Menschheit fuer immer
als Schwestern und Brueder angenommen und aufgenommen in sein Herz. Er ruft
uns Menschen zur Umkehr, indem er uns sein Vertrauen schenkt, sich als kleines
hilfloses Kind in die Arme Marias legt, das unsere Herzen mit seinem Laecheln
und seiner Liebe entzuendet. Der ewige Gott liebt den Menschen, den er
geschaffen hat, immer und bedingungslos. Das genau macht ihn wehrlos wie ein
Kind, aber maechtiger als die Herrscher dieser Erde. In Jesus ist Gott nicht
nur ein Mensch geworden, nein er ist sogar am Kreuz gestorben und hat sich dem
ungerechten Urteil der Menschen unterworfen. Darin genau zeigt sich seine
bedingungslose Liebe, die nicht im Zorn zurueckschlaegt. Seine Liebe ist
staerker als der Hass der Menschen. Wir Menschen sind aber nicht selten mit
Blindheit geschlagen, diese ewige unerschuetterliche Liebe Gottes zu uns
Menschen zu erkennen. Die Engel, die Gott und seine Liebe kennen und
anschauen, muessen uns wie den Hirten die Augen oeffnen, sie singen: "Ehre sei
Gott in der Hoehe und auf Erden Friede bei den Menschen, an denen er
Wohlgefallen hat." Dort, wo die Menschen erkennen, dass Gott an ihnen trotz
mancher Suenden ein grundsaetzliches Wohlgefallen hat, da leben die Menschen
auf und kehren um zum Frieden. Wer weiss, dass er von Gott geliebt ist, muss
nicht mehr in egoistischer Selbstbehauptung verharren. Er kann umkehren und
die Waffen niederlegen und Gott und den Naechsten lieben. Er kann von Jesus
lernen: Liebt einander, wie ich euch geliebt habe.

Mit Jesus fuehrt die Entwicklung des Menschen und der Menschheit aber noch
ueber das irdische Leben hinaus. Sie geht ueber das Menschwerden hinaus ins
Goettliche; denn Jesus ist ja nicht im Tode geblieben, wie seine Schueler
bezeugt haben. Der ewige Vater hat Jesus als seinen Sohn bezeugt, indem er ihn
von den Toten auferweckt hat. Dieser Jesus moechte nicht nur als Vorbild und
als Ideal in unseren Herzen leben, sondern als lebendiger Herr und Gott, der
uns rettet und vergoettlicht, der uns teilhaben laesst an seinem ewigen
goettlichen Leben.

So bringt der Apostel Johannes die Weihnachtsbotschaft schliesslich auf den
Punkt, indem er von Jesus schreibt:
"Er kam in sein Eigentum, aber die seinen nahmen ihn nicht auf.
Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden,
allen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut,
nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes,
sondern aus Gott geboren sind (Joh 1,12.13)."
D.h.: Gott gibt uns durch Jesus die Moeglichkeit, Kinder Gottes zu werden,
die aus Gott geboren sind. Ergreifen wir also diese unglaubliche Moeglichkeit
und nehmen wir Jesus auf in unser Herz.

Jedem Menschen moechte Gott diese Entwicklung schenken und ihn zu seinem Kind
machen, dass fuer immer bei ihm sein darf und in seiner grossen Liebe und
Barmherzigkeit geborgen ist. Diesen wahren Gott, der sich uns in seinem Sohn
Jesus Christus offenbart hat, koennen wir zu Recht anbeten und mit den Engeln
loben. Amen.

Pfarrer Dr. Bernhard Dalkmann
[email protected]
24.01.2009