Das letzte Buch des Neuen Testaments heisst "Offenbarung" oder
"Apokalypse" (griechisch: apokalypsis, Enthuellung). Der Titel stammt
vom Verfasser selbst (1,1).
E-2 Apokalypsen gab es schon in alttestamentlicher Zeit. Das
bekannteste Beispiel ist das Buch Daniel (Kap. 7 - 12), das zur Zeit
der Religionsverfolgung durch den Syrerkoenig Antiochus IV. Epiphanes
(167-164 v. Chr.) geschrieben wurde, um die Israeliten zum treuen
Festhalten am Bundesgott und seinem Gesetz aufzurufen. Eine aehnliche
Situation fuehrte zur Abfassung der neutestamentlichen Apokalypse, die
gegen Ende der Regierungszeit des roemischen Kaisers Domitian (81-96
n. Chr.) geschrieben wurde.
E-3 Der Verfasser rechnet damit, dass der Zwang zur goettlichen
Verehrung des Kaisers in naechster Zukunft zu einer schweren
Verfolgung der Kirche fuehren wird. Domitian verlangte, als "Herr und
Gott" angeredet zu werden. In der roemischen Provinz Asien wurde der
Kaiserkult schon seit langem mit besonderem Eifer betrieben. Sieben
Gemeinden dieser Provinz, die zugleich die ganze Kirche
repraesentieren, sind denn auch die unmittelbaren Adressaten des
Buches (1,4.11).
E-4 Der uns nicht naeher bekannte Verfasser nennt sich schlicht
"Knecht Johannes"; er muss aber eine Persoenlichkeit von hoher
Autoritaet gewesen sein. Seine gruendliche Kenntnis des Alten
Testaments und der ausserbiblischen juedischen Offenbarungsschriften
(Apokalypsen) weisen auf judenchristliche Herkunft hin. Er ist der
erste, der eine selbstaendige christliche Apokalypse verfasst hat. Den
Auftrag dazu hat er nach seinen eigenen Worten in einer Vision
(Schau) vom himmlischen Christus erhalten (1,10-20).
E-5 Auf die einleitende Vision folgen zuerst die sog. Sendschreiben,
in denen sich der himmlische Christus anerkennend, tadelnd und
mahnend an die sieben Gemeinden wendet (Kap. 2 - 3). Der ungleich
laengere Hauptteil (4,1 - 22,15) beginnt mit der grossen Vision vom
thronenden Gott im Kreis des himmlischen Hofstaates.
E-6 Die Offenbarung geschieht, wie in vorchristlichen apokalyptischen
Schriften, auch in der christlichen Apokalypse durch "Visionen" und
"Auditionen" (Schauen und Hoeren von himmlischen Botschaften). Wie
seine Vorgaenger bedient sich auch Johannes nicht nur der
gewoehnlichen, ohne weiteres verstaendlichen Sprache, sondern er
verwendet vor allem Bilder, Symbole und allegorische Szenen. Und wie
dort ist auch hier das Hauptthema der bevorstehende Triumph der
Herrschaft Gottes. Trotz dieser Gemeinsamkeiten ist die Apokalypse
des Johannes aber eine echt christliche Schrift mit alttestamentlich-
juedischen Zeugnissen. Der endgueltige Sieg Gottes, der fuer die
vorchristlichen "Apokalyptiker" noch reine Zukunft ist, hat mit der
Auferstehung Jesu bereits begonnen. Ziel der Geschichte kann demnach
nur noch die Vollendung und volle Offenbarung dieses Sieges sein. Der
prophetische Verfasser will im Blick auf die beginnende
Auseinandersetzung zwischen Christuskult und Kaiserkult die noch
ausstehenden Ereignisse der Endzeit mit den Ausdrucksmitteln einer
Apokalypse veranschaulichen.
E-7 Die Offenbarung des Johannes will nicht den Gang der Welt- und
Kirchengeschichte voraussagen. Ebensowenig ist es ihre Absicht, das
mit der baldigen Wiederkunft Christi verbundene Geschehen in seinem
Ablauf genau zu beschreiben. Mit ihren zahlreichen, dem heutigen
Leser weithin fremden Bildern will sie vielmehr bedeutsame Wahrheiten
ueber das Schicksal der Kirche und der unglaeubigen Menschheit
verkuenden, um in den Christen die Bereitschaft zum Martyrium zu
staerken. Als Zeugnis des unerschuetterlichen Glaubens an den Sieg
Christi und seiner Getreuen ist diese einzige prophetische Schrift
des Neuen Testaments das grosse Trost- und Mahnbuch der Kirche
geworden.