Den Titel "Buch der Weisheit" traegt dieses Buch in der
lateinischen Bibel; in der griechischen Bibel heisst es "Weisheit
Salomos". Das Buch stammt aus der juedischen Diaspora in Aegypten,
wahrscheinlich aus Alexandria, dem beruehmten Zentrum hellenistischer
Wissenschaft. Es ist das spaeteste Buch des Alten Testaments. Die
Verfolgung gesetzestreuer Juden durch abgefallene Juden (Kap. 2)
weist in die Zeit zwischen 80 und 30 v. Chr.; damals hatte auch die
Weltmacht Rom den Juden ihre Gunst entzogen.
E-2 Der Verfasser ist stolz auf seine juedische Religion und auf sein
Volk; er ist aber auch hellenistisch gebildet und offen fuer die
Schoenheit der Natur (Kap. 13). Er versteht es, sich in seiner
griechischen Muttersprache klar und genau auszudruecken. Die Bibel las
er in der griechischen Uebersetzung der Septuaginta. Philosophische
Gedankengaenge, wie sie die Griechen zu seiner Zeit kannten, waren ihm
fuer seine Darstellung der Offenbarung des Alten Testaments hilfreich.
Indem er in der Person des Koenigs Salomo spricht (vgl. 9,7), stellt
er sich, wie der Verfasser von Spr 1 - 9 und wie Kohelet, in die
Reihe der Weisheitslehrer Israels. Er nennt Salomo jedoch nicht mit
Namen, wie er auch sonst keine Namen nennt, um die allgemein
menschliche Geltung dieser Weisheit herauszuheben.
E-3 Der Verfasser wendet sich troestend und mahnend an seine
verfolgten Glaubensgenossen, aber auch drohend und warnend an ihre
Verfolger, die abgefallenen Juden, und einladend und werbend an seine
heidnische Umwelt, indem er die Offenbarungsreligion als Gabe der
Weisheit darstellt.
E-4 Die herkoemmliche Dreiteilung des Buches (Kap. 1 - 5; 6 - 9; 10 -
19) ist zwar inhaltlich berechtigt; der kunstvolle Aufbau ermoeglicht
aber eine genauere Abgrenzung der Teile:
E-5 Der erste Teil gliedert sich in sieben Abschnitte. Er beginnt und
schliesst mit einer Mahnrede (1,1-15 und 6,1-21); beide Mahnreden
richten sich an die Herrscher der Erde, die aufgefordert werden, die
Gerechtigkeit zu lieben (1,1-15) und die Weisheit zu suchen (6,1-21).
Wie der erste und siebte, so entsprechen sich auch der zweite und
sechste Abschnitt (1,16 - 2,24 und 4,20 - 5,23): Dem Triumph der
Suender ueber die Gerechten wird der Triumph der Gerechten ueber die
Suender gegenuebergestellt. Die drei mittleren Abschnitte (3,1-12;
3,13; 4,6; 4,7-19) versuchen mit dem Ausblick auf die
Unsterblichkeit eine Loesung der Lebensraetsel, um die sich auch Ijob,
Kohelet und Jesus Sirach bemuehen.
E-6 Im zweiten Teil lassen sich ebenfalls sieben Abschnitte
feststellen. Nach einer Einleitung (6,22-25) wird ausgefuehrt, dass
auch der Weise ein sterblicher Mensch ist wie alle anderen (7,1-6).
Er hat um Weisheit gebetet und sie als kostbarste Gabe erhalten (7,7-
14). Er bittet Gott darum, gemaess der Weisheit denken und lehren zu
koennen (7,15-21). Dann beschreibt er das Wesen der Weisheit in
leuchtenden Farben (7,22 - 8,1). Er stellt die Weisheit als Lehrerin
der Tugend vor (8,2-8). Die Weisheit wird ihm zur Lebensgefaehrtin
(8,9-18).
E-7 Der dritte Teil (8,19 - 19,22) ist ein einziges grosses Gebet
Salomos. Er bittet Gott um die Weisheit (9,1-19). Dann betrachtet er
das rettende Wirken der Weisheit an sieben Beispielen (10,1 - 11,4)
und das strafende und rettende Eingreifen Gottes in sieben
Gegenueberstellungen (11,5 - 19,22). Eingeschaltet sind zwei
Abschnitte ueber die Art Gottes zu strafen (11,15 - 12,27) und ueber
die Torheit des Goetzendienstes (13,1 - 15,19). Die Auszugserzaehlungen
des Buches Exodus schmueckt der Verfasser nach Art der juedischen
Schrifterklaerung und der griechischen Redekunst frei aus und
uebersteigert sie, um das Handeln Gottes eindrucksvoll darzustellen.
Da er keinen Namen nennt, bekommen die biblischen Ereignisse, auf die
er sich bezieht, eine weitreichende, umfassende Bedeutung.
E-8 Die griechisch sprechenden Juden der Diaspora haben das Buch der
Weisheit wie auch andere deuterokanonische Buecher gern gelesen. Von
ihnen hat es die Kirche in ihren Kanon uebernommen. Durch seine klare
Lehre von der Unsterblichkeit, die erhabene Schau des goettlichen
Wirkens im Zusammenklang von Allmacht, Gerechtigkeit und
Barmherzigkeit und durch die Aussagen ueber die aus Gottes Wesen
hervorgehende und mit ihm aufs innigste verbundene Weisheit (7,22 -
8,1) ist das Buch der kroenende Abschluss der alttestamentlichen
Weisheitsliteratur und fuehrt bis an die Schwelle des Neuen Testaments
heran. Paulus spielt oefter auf Texte dieses Buches an, vgl. besonders
Roem 1,23-32; 11,33.