David floh aus dem Prophetenhaus in Rama, ging zu Jonatan und hielt
ihm vor: Was habe ich denn getan? Was ist meine Schuld? Was habe ich
gegen deinen Vater verbrochen, dass er mir nach dem Leben trachtet?
20:2 Jonatan antwortete ihm: Das ist undenkbar. Du wirst nicht sterben.
Du weisst doch: Mein Vater tut nichts Wichtiges oder Unwichtiges,
ohne es mir zu offenbaren. Warum sollte mein Vater gerade das vor
mir verheimlichen? Nein, das kann nicht sein.
20:3 David aber beteuerte nochmals: Dein Vater weiss genau, dass ich dein
Wohlwollen gefunden habe, und sagt sich: Jonatan soll das nicht
wissen, sonst wird er betruebt. Aber, so wahr der Herr lebt und so
wahr du selbst lebst: Zwischen mir und dem Tod liegt nur ein
Schritt.
20:4 Jonatan fragte David: Was meinst du? Was koennte ich fuer dich tun?
20:5 David antwortete Jonatan: Du weisst doch, morgen ist Neumond. Da
muesste ich unbedingt am Mahl des Koenigs teilnehmen. Lass mich
fortgehen, damit ich mich bis uebermorgen abend auf dem Feld
versteckt halte.
[Der Neumond ist wie der Sabbat Fest- und Ruhetag (vgl. 2 Koen 4,23;
Hos 2,13; Am 8,5).]
20:6 Wenn dein Vater mich vermisst, dann sag: David hat mich dringend
gebeten, in seine Heimatstadt Betlehem gehen zu duerfen, weil dort
das jaehrliche Opfer fuer die ganze Sippe stattfindet.
20:7 Wenn er dann sagt: Gut!, dann steht es guenstig fuer deinen Knecht.
Wenn er aber in heftigen Zorn geraet, dann kannst du daran erkennen,
dass das Unheil von ihm beschlossen ist.
20:8 Zeig deinem Knecht also deine Freundschaft; denn du hast mit deinem
Knecht einen Bund vor dem Herrn geschlossen. Wenn ich Schuld auf
mich geladen habe, dann toete mich gleich! Warum willst du mich erst
zu deinem Vater bringen?
[18,3]
20:9 Jonatan antwortete: Das darf nicht mit dir geschehen. Sobald ich
sicher weiss, dass mein Vater beschlossen hat, Unheil ueber dich zu
bringen, werde ich es dir auf jeden Fall mitteilen.
20:10 David aber fragte Jonatan: Wer wird mir die Nachricht bringen, wenn
dir dein Vater etwa eine schroffe Antwort gibt?
20:11 Jonatan sagte zu David: Komm, wir wollen aufs Feld hinausgehen.
Beide gingen aufs Feld hinaus.
20:12 Und Jonatan sagte zu David: Beim Herrn, dem Gott Israels: Wenn ich
morgen oder uebermorgen um diese Zeit bei meinem Vater in Erfahrung
bringe, dass es gut fuer David steht, dann werde ich jemand schicken
und es dir sagen lassen.
20:13 Der Herr moege Jonatan dies und das antun: Wenn mein Vater Boeses
gegen dich im Sinn hat, werde ich es dir sagen und werde dich in
Frieden gehen lassen. Der Herr moege mit dir sein, wie er mit meinem
Vater gewesen ist.
20:14 Nicht wahr, wenn ich dann noch am Leben bin, wirst du entsprechend
der Huld des Herrn an mir handeln. Wenn ich aber umkomme,
20:15 dann entzieh meinem Haus niemals deine Gunst, selbst wenn der Herr
jeden der Feinde Davids auf dem Erdboden ausrottet.
20:16 So schloss Jonatan einen Bund mit dem Haus David. - Der Herr halte
sich schadlos an Davids Feinden. -
[Der Sinn des zweiten Satzes ist in H unklar, die Uebersetzung ein
Versuch.]
20:17 Und Jonatan liess auch David bei seiner Liebe zu ihm schwoeren; denn
er liebte ihn wie sein eigenes Leben.
20:18 Dann sagte Jonatan zu ihm: Morgen ist Neumond. Du wirst vermisst
werden; denn man wird deinen Platz beobachten.
20:19 Uebermorgen aber geh weit hinab, an den Ort, wo du dich am Tag der
Tat versteckt hattest, und setz dich neben den Stein dort.
[Welche Tat gemeint ist, wird aus H nicht deutlich.]
20:20 Ich werde dann drei Pfeile in seine Naehe schiessen, als ob ich ein
Ziel treffen wollte.
20:21 Dann gib acht: Ich schicke meinen Diener (und sage zu ihm): Geh,
such nach den Pfeilen! Wenn ich dem Diener ausdruecklich sage: Pass
auf, die Pfeile liegen von dir aus herwaerts, hol sie!, dann komm,
denn es steht guenstig fuer dich, und es liegt nichts vor, so wahr der
Herr lebt.
20:22 Wenn ich aber zu dem jungen Mann sage: Pass auf, die Pfeile liegen
von dir aus weiter draussen!, dann geh weg, denn der Herr schickt
dich fort.
20:23 Fuer diese Vereinbarung, die wir, ich und du, getroffen haben, soll
der Herr auf ewig mein und dein Zeuge sein.
20:24 Daraufhin versteckte sich David auf dem Feld. So kam der Neumond,
und der Koenig setzte sich zu Tisch, um das Mahl zu halten.
20:25 Er setzte sich wie jedesmal auf seinen gewohnten Platz an der Wand;
Jonatan sass ihm gegenueber, und Abner sass an Sauls Seite. Davids
Platz aber blieb leer.
[sass ihm gegenueber: Text korr. nach G; H: stand auf.]
20:26 Saul sagte an diesem Tag nichts, denn er dachte: Es ist ihm etwas
zugestossen, was ihn unrein sein laesst; sicher ist er nicht rein.
Fuer ein Kultmahl muss man im Zustand kultischer Reinheit sein.
20:27 Als aber am zweiten Tag, dem Tag nach dem Neumond, der Platz Davids
wieder leer blieb, sagte Saul zu seinem Sohn Jonatan: Warum ist der
Sohn Isais gestern und heute nicht zum Essen gekommen?
20:28 Jonatan antwortete Saul: David hat mich dringend gebeten, nach
Betlehem gehen zu duerfen.
20:29 Er sagte: Lass mich gehen; denn in der Stadt findet ein Opfer unserer
Sippe statt. Mein Bruder selbst hat mich aufgefordert (zu kommen).
Wenn ich dein Wohlwollen gefunden habe, dann moechte ich jetzt gehen
und meine Brueder wiedersehen. Deswegen ist David nicht an den Tisch
des Koenigs gekommen.
20:30 Da wurde Saul zornig ueber Jonatan und sagte: Du Sohn eines
entarteten und aufsaessigen Weibes! Ich weiss sehr gut, dass du dich zu
deiner eigenen Schande und zur Schande des Schosses deiner Mutter fuer
den Sohn Isais entschieden hast.
[23,17]
20:31 Doch solange der Sohn Isais auf Erden lebt, wirst weder du noch dein
Koenigtum Bestand haben. Schick also sofort jemand hin, und lass ihn
holen; denn er ist ein Kind des Todes.
20:32 Jonatan antwortete seinem Vater Saul: Warum soll er umgebracht
werden? Was hat er getan?
20:33 Da schleuderte Saul den Speer gegen ihn, um ihn zu toeten. Nun wusste
Jonatan, dass sein Vater beschlossen hatte, David umzubringen.
[18,11]
20:34 Voll Zorn stand er vom Tisch auf und ass an diesem zweiten Neumondtag
nichts; denn er war bekuemmert wegen David, weil sein Vater ihn
beschimpft hatte.
20:35 Am naechsten Morgen ging Jonatan, wie er mit David verabredet hatte,
aufs Feld hinaus, und ein junger Diener war bei ihm.
20:36 Er sagte zu dem Diener: Lauf, such die Pfeile, die ich abschiesse.
Der Diener lief, und er schoss einen Pfeil ueber ihn hinaus.
20:37 Als der Diener an die Stelle kam, wohin Jonatan den Pfeil geschossen
hatte, rief Jonatan dem Diener nach: Liegt der Pfeil von dir aus
nicht noch weiter draussen?
20:38 Und er rief dem Diener nach: Beeil dich, schnell, bleib nicht
stehen! Der Diener Jonatans hob den Pfeil auf und kam zu seinem
Herrn zurueck.
20:39 Der Diener aber ahnte nichts; nur Jonatan und David wussten von der
Vereinbarung.
20:40 Jonatan gab dem Diener, den er bei sich hatte, seine Waffen und
sagte zu ihm: Geh, bring sie in die Stadt!
20:41 Als der Diener heimgegangen war, verliess David sein Versteck neben
dem Stein, warf sich mit dem Gesicht zur Erde nieder und verneigte
sich dreimal tief (vor Jonatan). Dann kuessten sie einander, und beide
weinten. David hoerte nicht auf zu weinen,
[neben dem Stein: Text korr., vgl. V. 19; unklar. - hoerte nicht auf
zu weinen: H unklar, Uebersetzung ein Versuch.]
20:42 und Jonatan sagte zu ihm: Geh in Frieden! Fuer das, was wir beide uns
im Namen des Herrn geschworen haben, sei der Herr zwischen mir und
dir, zwischen meinen und deinen Nachkommen auf ewig Zeuge.