Tagebuch: 01.04.2004

Ich war auf dem Weg zu einer Patientin, einer Frau um die fünfzig, die sofort
schrie, sobald man sie reizte. Das Gemüt ihres Mannes war ihrem vergleichbar,
sie sprachen niemals im gemäßigten Ton miteinander, soweit ich das sagen kann,
jedenfalls nicht in meiner Gegenwart.
Er warf ihr vor, sich ihre Gebrechen nur einzubilden, sie beschimpfte ihn als
einen Säufer, der den ganzen Tag vor der Glotze hing, und vermutlich traf
beides zu.

Eines Vormittags, während eines meiner Besuche, zu denen ich meist gerufen
wurde, weil sie über Krämpfe, Kopfschmerzen und Müdigkeit klagte - ihr Mann
war fort, um Bier zu holen - sprach sie zu mir in beschwörender Weise.

"Sagen Sie mal, Sie sind doch Arzt..."
"Natürlich", sagte ich und öffnete meine Tasche.
"Ein guter?"
"Ich komme zurecht." Sie lugte in meine Tasche.
"Was ist denn das alles für'n Zeug?"
"Wieso?"
"Sie haben doch auch sicher 'n Haufen Chemikalien da drin, stimmt's? So welche
von der Sorte, die einen im Nu umhauen..."
"Wie meinen Sie das?"
"Für immer, mein ich"
"Es kommt immer auf die Dosis an."
"Wohl auch welche von denen, die man hinterher nicht so leicht nachweisen kann..."
"Was haben Sie vor?"
"Ich hab's satt, verstehen Sie? Ich meine IHN. Er sitzt den ganzen Tag da,
schläft, rülpst, säuft, ich hab's satt; der Teufel in Form einer lästigen
Zecke, ich will, daß damit Schluß ist. Sie müssen mir helfen, Sie können was
zusammenmixen, das ihn umhaut, keinen wird's wundern; 'Kein Wunder' werden sie
sagen, 'der mit seiner Sauferei'."
"Sie sind nicht müde, Sie sind krank!" sagte ich, schloß meine Tasche und
machte Anstalten, zu gehen. Ich hatte bereits eine Hand an der Türklinke, doch
sie hielt mich zurück.
"Hey! Jetzt passen Sie mal auf! Sie können sich hier nicht einfach verdrücken,
als wäre nichts gewesen!"
"Ach ja? Was war denn?"
Sie krempelte ihre Bluse hoch und zeigte mir ihren Rücken. Er wies Spuren von
Mißhandlung auf.
"Außer mir, meinem Mann - und jetzt auch Ihnen - weiß das kein Mensch." Sie
kam näher. "Also, wenn Sie mir nicht helfen, werde ich sagen, Sie wären das
gewesen, klar? Dann haben Sie ein echtes Problem!" Das stimmte wohl; nicht
zuletzt deshalb, weil ihr Mann einen starken Beschützerinstinkt für sie
entwickelte, so versoffen er auch sein mochte.
Sie öffnete die Tür. "Schönen Tag noch."
Ich ging.

Es war wie in einem Null-Acht-Fünfzehn-Krimi. Mir war beinahe nach lachen
zumute.
Ich fragte mich, wie lange sie das wohl schon plante, und wann ihr die Idee
gekommen war, mich da mit hineinzuziehen. Ich war selbst überrascht, daß ich
wegen dieses Vorfalls so gut wie gar nicht aufgebracht war.

Einen Tag später traf ich IHN im Supermarkt. Als er mich sah, sah er kurz
hinter sich, dann sprach er mich an.
"Hallo, ... einkaufen?" Er lächelte und trat von einem Fuß auf den anderen.
"Ja, sozusagen."
"Gut." Er setzte ein paar mal zu einem Satz an. Er rang mit sich selbst.
"Sagen Sie mal, Sie sind doch Arzt..., das heißt, Sie kennen 'ne Menge
Chemikalien auswendig, stimmt's?"
"Ich hab leider keine Zeit, wiedersehen."
Er hielt mich fest. Dann sprach er unbeirrt weiter. "Wissen Sie, meine Frau,
Sie kennen sie ja inzwischen gut genug; also, sie ist ziemlich krank. Ein paar
mal schon war es nicht sicher, ob sie überhaupt durchkommt".
Schließlich eröffnete er mir, daß er auf seine Frau ohne ihr Wissen eine
Lebensversicherung von stattlicher Höhe abgeschlossen hatte, und mich sogar
daran teilhaben lassen wollte, wenn ich ihm dabei hülfe, sie zu beseitigen. Er
sagte wirklich 'beseitigen'; wie einer dieser Gangster aus den Fernsehserien,
die er zu hauf konsumierte.
Andernfalls drohte er, mir den Schädel einzuschlagen. Ziemlich plump,
verglichen mit der Variante seiner Frau, mich zu erpressen. Ich fragte ihn,
warum er es nicht selbst täte, da er doch offensichtlich grundsätzlich zu
kriminellen Handlungen bereit sei. Er sagte, er brauche ein Alibi für die
Zeit, in der sie sterbe, und das würde ich ihm verschaffen, indem ich sie für
ihn tötete. Das leuchtete mir ein; tat es auch vorher schon, ich weiß auch
nicht, warum ich das gefragt hatte.
Er hielt die ganze Zeit, die wir sprachen, krampfhaft meinen Arm, und
jedesmal, wenn jemand seinen Einkaufswagen dicht an uns vorbeischob, lächelte
er und benahm sich damit recht auffällig.
Zum Schluß stellte er mir ein Ultimatum von 24 Stunden, um ihm meine
Entscheidung wissen zu lassen; dann wünschte er mir noch einen schönen Tag.
Ich bezahlte und ging.

Ich fragte mich auf dem Nachhauseweg, was wohl geworden wäre, hätte ich
damals nicht auf meinen Vater gehört und stattdessen Philosophie studiert, wie
ich es eigentlich immer vorhatte.

Ich hatte die ganze Woche Bereitschaftsdienst, und am nächsten Morgen
klingelte das Telefon. Sie jammerte wieder über Kopfschmerzen. Ich nahm meine
Pistole und machte mich auf den Weg.

Als ich eintraf, lief der Fernseher, doch ihr Mann war nicht zu Hause. Sie lag
auf dem Sofa, wie üblich mit einer muffigen Wolldecke bedeckt. Sie sah nicht
in meine Richtung, sondern fing sofort an, ihre Symptome aufzuzählen.
Ich zog die Pistole aus der Tasche, zielte auf ihre Brust und schoß.
Dann setzte ich mich vor den Fernseher. Meine Hände waren schwitzig und kalt.
Bald darauf raschelte es im Schloß. Die Tür wurde geöffnet, er trat ein und
sah seine Frau tot auf dem Sofa, einen großen roten Fleck in Brusthöhe. Dann
sah er in meine Richtung und direkt in die Mündung der Pistole. Schuß.
Ich ließ alles so, wie es war, öffnete die Tür einen Spalt weit, sah hinaus,
um mich zu vergewissern, daß niemand auf dem Flur war, ging die Treppe
hinunter und stieg in mein Auto. Ich startete den Motor, sah aus dem
Wagenfenster und hinauf zu dem Fenster der Wohnung der beiden Toten, gab Gas
und war fort.

Unterwegs beglückwünschte ich mich: Keine Feinde mehr, keine Probleme mehr,
gut gemacht. Und keine Zeugen. So weit so gut.

Was hätte ich denn auch tun sollen? Meine Stellung als Arzt gefährden? Jeder
muß schließlich sehen, wo er bleibt. Gerade in der heutigen Zeit ist es
wichtig, einen guten Job zu haben.
Manche mögen mich für verrückt halten. Wenn dem so sein sollte und ich bin
tatsächlich verrückt, dann ist das gar nicht so schlimm, wie alle glauben. Ich
habe dieselben Gefühle wie alle anderen, habe denselben Spaß an denselben
Dingen. Nur was das Leben und den Tod angeht, so liegt meine Hemmschwelle, das
eine in das andere umzuwandeln, etwas tiefer. Ich habe schon viel gesehen, und
ich habe eine große Kenntnis von den Mechanismen des Lebens, und ich bin nicht
verrückt.

Du kannst mir glauben, liebes Tagebuch.

von mue, 1. April 2001 (CC BY-NC-ND 4.0)