Die Unsterblichkeit

Weihnacht ist die Zeit der Engel, die Zeit der
Finsternis, die Zeit, in der der Frost die Knochen
gefriert, man sich vor Krankheiten fuerchtet und sich
Unsterblichkeit wuenscht. Vergeblich, natuerlich. Der
einzige Mensch, den ich kenne, der etwas
Unsterblichkeit hervorbrachte - und dazu den Frost,
der in den Knochen gefriert -, war mein Patenonkel,
Dr. med. Frank Largier.

Dr. Frank Largier war ein nuechterner Mann mit
schmalem, grauem Gesicht und schmalen, grauen
Haenden, in deren einer fast immer eine Zigarette
steckte. Er war ein zu nuechterner Arzt, um sich noch
etwas vorzumachen, als er die Computertomographie
betrachtete. Knochen und Lunge waren mit hellgrauen
Flecken bedeckt. Das primaere Geschwulst, ein
Nephroblastom, zu deutsch: ein kleinzelliger
Nierentumor, hatte die Groesse einer Grapefruit
erreicht.

Es war ein Tag im Fruehling 1988, kurz nach Beginn
der Tennissaison. Elsie, seine Frau, war 38 Jahre alt.
Es war nun einen Monat her, dass sie nach einem
Schwindelanfall in einem Plauschturnier eine duenne
Blutspur in ihrem Urin entdeckt hatte, und er wusste
nun, dass es ein Wunder waere, wenn sie das Jahr
ueberleben wuerde. Und dass es bereits ein kleines
Wunder war, dass die Schmerzen noch nicht eingesetzt
hatten.

Wenn ich ihn spaeter besuchte, erzaehlte er mir oft, was
er in diesem Moment getan hatte. Zuerst hatte er sich
zurueckgelehnt, betaeubt, schockiert, erschlagen. Doch
dann hatte er einen Trick eingesetzt, den er sich als
Anatomiestudent angewoehnt hatte, wenn ihm beim
Sezieren schlecht geworden war: Er memorierte den
Stoff einer beliebigen Vorlesung.

"Die Zellteilung", hoerte er diesmal die schleppende,
dozierende Stimme eines Professors, "ist biologisch
gesehen das Kernproblem des Lebens: Solang sich
unsere Zellen erneuern, leben wir. Das Ende der
Zellteilung bedeutet also das Ende fuer jeglichen
Organismus. Gesetzt, weder Krankheiten noch Unfaelle
kommen in die Quere, ist das beim Menschen bei
maximal 120 bis 140 Jahren der Fall. Dann hoeren sich
die Zellen auf zu teilen, und das Individuum stirbt. Der
Tod ist also quasi als Schaltuhr in jeder Zelle
eingebaut . . ."

"Dabei gibt es allerdings eine einzige Ausnahme",
spulte mein Onkel den Vortrag ab: "eine, wenn auch
eher makabere Ausnahme: die anarchistischen
karzinogenen Zellen, kurz: Krebszellen . . . Diese
Zelltypen teilen sich dank totalem Kontrollverlust
zeitlich sowie raeumlich praktisch unbeschraenkt.

DDas beruehmteste Beispiel dafuer kennen Sie: den
Kehlkopfkrebs der Amerikanerin Helen Lang. Miss
Lang war eine Patientin im finalen Stadium eines
Larynxkarzinoms. 1947 entnahm man ihr einige Zellen
und setzte diese in Naehrloesung an. Die Patientin ist
heute laengst begraben, aber die Ableger ihres
Kehlkopfkrebses - die nach Frau Lang sogenannten
HeLa-Zellen - sind heute in den Labors der ganzen
Welt verteilt - mit einem Gesamtgewicht von ueber
zwei Tonnen . . ."

Mit seiner Prognose "bis Ende Jahr" hatte mein
Onkel zu optimistisch gerechnet: Elsie starb drei
Monate spaeter, an einem der ersten Sommertage. Ihre
Schmerzen waren auch so schrecklich genug gewesen.

Ein halbes Jahr nach dem Begraebnis, an einem
Adventsbesuch der Familie, bekam ich sie erstmals
wieder zu sehen. Es roch nach Tee, Nuessen und
Zigarren, meine Eltern plauderten mit den uebrigen
Verwandten im Esszimmer, als Onkel Frank meine
kleine Schwester an der Hand nahm und uns in ein
abgedunkeltes Zimmer fuehrte, worin auf einem
schwarzen Tisch eine Art grosses Aquarium stand,
das mit einer schwach phosphoreszierenden
Fluessigkeit gefuellt war. Mein Onkel zuendete eine
Kerze und eine Zigarette an, deutete mit dem
Glutpunkt der Zigarette auf das Aquarium und
raeusperte sich.

"Hier liegt", sagte er leise, "eure Tante Elsie. Sie ist
jetzt unsterblich. Komm, Sandra! Sag ihr brav
Grueezi!"

Wir starrten auf den Zellklumpen, der in der
gruenlichen Fluessigkeit schwamm.

"Schoene Weihnachten, Tante Elsie", sagte meine
kleine Schwester.

Aber Tante Elsie antwortete nicht. Sie drehte sich nur
langsam in ihrer Naehrloesung und wucherte etwas: still
und unfoermig wie die Wolke eines Engels.