(SZ) Ein Wochenende noch, und die schönen, die tollen Tage von Oberhof
  sind zu Ende. Heute schon ahnt man: Die nächste Woche, sie wird
  grausam einsam sein. Ohne die Lieblinge der letzten Tage. Ohne
  Liv-Grete und Raphael, ohne Königin also und König, samt ihrem
  Töchterchen Emma. Ohne Ole Einar. Ohne Martina, Ricco und die rote
  Kati. Ohne den lieblichen Schwarm all der Ivanas, Tatjanas und
  Svetlanas. Ohne den Bundestrainer natürlich, den bärtigen Herrn
  Müssiggang, dessen Sachverstand uns täglich zuverlässig erleuchtete.
  Vorbei ist sie nun bald, die Weltmeisterschaft im Biathlon - ein
  Ereignis, das die Herzen der Deutschen in dieser Woche sogar noch
  tiefer bewegt hat als die Feiern für den Philosophen Kant. Und aufs
  Neue muss man sich die Frage stellen, wie aus zwei eher monotonen,
  unansehnlichen Aktivitäten des Menschen (wie Skilanglaufen und
  Schießen) allein durch ihre Paarung ein magischer, ein
  unwiderstehlicher Zwilling werden konnte.

  Nach vielen Stunden vor dem Fernsehkasten ist man dem Mysterium
  endlich auf der Spur. Das Leben, sagt der Dichter Calderón, ist ein
  Traum. Das Leben, sagt der Prinz von Homburg, ist eine Reise. Bei
  allem Respekt vor den Herren: Hier muss man, im Lichte von Oberhof,
  energisch widersprechen. Das Leben ist ein Biathlon! Weil nämlich vom
  Menschen wie vom Biathleten immerzu verlangt wird, das scheinbar
  Unvereinbare miteinander zu verbinden. Das Laufen, wo es auf den
  leichten Fuß ankommt und auf die stramme Wade, und das Schießen -
  Liegend Schießen/Stehend Schießen -, wo die ruhige Hand gefragt ist
  und das scharfe Auge. So ist der Biathlet ein zutiefst Gespaltener,
  wenn nicht Zerrissener, und gleicht darin uns allen. Dem Kanzler, der
  ein knallharter Reformer sein soll und ein guter Hirte der Genossen.
  Dem Reporter, vom dem man größte Geschwindigkeit erwartet, bei
  genauester Recherche. Dem Liebhaber, der stürmisch sein soll, aber
  bitte nicht ungeduldig. Dem Theatermacher, der ein kühner Neuerer sein
  muss, aber auch ein braver Hüter der Klassiker. So rennen wir, und so
  schießen wir uns durch unser Leben, und die Zahl der Wadenkrämpfe
  einerseits, der Fehlschüsse und Strafrunden andererseits nimmt täglich
  zu. Bis der Große Rennleiter ein Einsehen hat - und uns endlich von
  der Strecke holt.

  Unser Wort zum Sport nähert sich nun bereits dem Ende. Die letzte
  Runde hat begonnen, die Schlusspointe ist schon in Sicht. Nur jetzt
  nicht wieder alles versauen! Jeder Schreiber übt sich in einer
  Disziplin, die wahrhaftig noch härter ist als alles, was das Biathlon
  kennt: Sitzend Schießen. Es zittert die Hand, es trieft das Auge, die
  Zielscheibe verschwimmt im Dunst. Und kein Bundestrainer, kein
  Müssiggang hilft. Doch da muss man jetzt durch, eine Flucht ist nicht
  mehr möglich. Augen zu also! Und Schuss!