(SZ) Hochgeschätztes Publikum, wer an Allerheiligstes sich wagt, wer
Mozart zartbitter vorträgt, Shakespeare niederschmetternd aufführt und
Wagner übermenschlich aufzublasen versteht, wer also Kunstbezirke
betritt, im Rang vergleichbar den Domen zu Speyer, Worms oder Köln,
der sollte wissen, was er bei aller Deutungslust tut und welchem
Prinzip er verpflichtet ist: der Werktreue. Der Spruch des
rauschebärtigen Sozialtheoretikers Karl Marx, dass es gelte, die Welt
zu verändern und nicht nur zu interpretieren, muss daher mit größter
Skepsis gesehen, wenn nicht grundsätzlich abgelehnt werden. Was nicht
heißt, dass es nur nach dem Motto geht: So, wie es immer gemacht
wurde, soll es auch weiterhin geschehen. Selbst bei so altehrwürdigen
Institutionen wie der Kirche und dem Fußball gibt es über die
Jahrtausende hinweg verschiedenste Interpretationen von Liturgie und
Freistoß, Inquisition und Abseitsfalle.
Wenn aber nun auf den Opernbühnen und vor den Altären allzu
einfallsreiche Regisseure die Umwertung aller Werte betreiben, die
Klassiker verhunzen, wo nicht gar zerstören, und das als
Interpretation ausgeben, dann droht unersetzlicher Verlust, Schwund
auf ganzer Linie, letztlich der Untergang unseres Abendlandes. Ist
sich die anglikanische Kirche von England und Wales eigentlich
bewusst, welches Erdbeben sie auslöst, wenn sie eine der
ergreifendsten Szenen der Heilsgeschichte modernistisch umdeutet und
so der schrankenlosen Verwirrung Tür und Tor öffnet? Laut Times hielt
sie es auf ihrer Synode in London nämlich für möglich, dass mindestens
einer der drei Weisen aus dem Morgenlande - oder, nach anderer Lesart,
einer der heiligen drei Könige, die dem Stern nach Bethlehem folgten
zum Kind in der Krippe - eine Frau gewesen sei. Der griechische
Ausdruck magoi ist in der autorisierten King-James-Version der Bibel
mit wise men übersetzt worden; magos ist jedoch nur die griechische
Umschreibung für einen offiziellen Titel am persischen Hof. Der deutet
jedoch keineswegs darauf hin, dass es sich notwendig um weise Männer
handelt.
Verehrte Damen und Herren, spüren Sie, wie klassisch-eindeutige
Ursprünglichkeit aus intellektueller Hybris durch ausgeklügelt
opportunistische Relativierung ersetzt wird? Wer will dann noch
behaupten, dass dieses gemischte Trio Gold, Weihrauch und Myrrhen
mitbrachte? Und wenn es gar drei Damen gewesen wären, wie in Mozarts
"Zauberflöte"? Was würde dann aus Kölns Heiligtum, dem
Dreikönigsschrein? Alice Schwarzer mag frohlocken. Schon 1604, als die
King-James-Version begonnen wurde, wusste Richard Bancroft, der
Erzbischof von Canterbury, wohin das alles führt. "Wenn man jedermanns
Einfall folgt", mahnte er, "wird das Übersetzen kein Ende nehmen."