(SZ) Manche Dinge, die verschwunden sind, vermisst du Jahre nicht.
Mehr noch, du bemerkst ihr Verschwinden nicht einmal. Aber plötzlich -
wer weiß schon, warum - eine scharfe, plastische Erinnerung. Die
Eisblumen! Es gibt keine Eisblumen mehr an den Scheiben. Früher, als
Kind, hast du morgens die Augen aufgeschlagen und mit dem ersten, noch
schläfrigen Blick die bizarrsten Farne, Sterne, Rhomben, Späne
entdeckt. Kälte rieb an deiner Stirn. Du zogst die Bettdecke hoch bis
übers Kinn. Bloß nicht aufstehen. Nur schauen, eine Minute, und noch
eine. Atemwölkchen ausstoßen. Solange du bloß schaust und atmest, kann
die Kälte dich nicht schneiden. Ja, die Eisblume war es, die dir eine
erste Ahnung gab, wie nah Schönheit und Schmerz beieinander liegen.
Was hat man gedacht während jener Minuten, die lautlos in die Daunen
fielen? Ooch, von richtigen Gedanken zu sprechen, wäre wirklich
übertrieben. Es war nur so ein Staunen: Wie sich das da am Fenster
bildet! Jeden Tag eine neue verrückte, raue, glitzernde Form. Wie die
Natur das zu Wege bringt! Und beim Staunen ist es geblieben. Man kann
sich nun einmal nicht über alles auf der großen, weiten Welt erhabene
Gedanken machen, es sei denn, man wäre jemand wie Thomas Mann und
bestünde aus solchen Gedanken, dann schriebe man jetzt mal eben den
"Doktor Faustus" und bezöge die Eisblumen in seine grundsätzlichen
Überlegungen ein: Bildeten "diese Phantasmagorien die Formen des
Vegetativen vor, oder bildeten sie sie nach? Keines von beidem,
erwiderte er (Adrian Leverkühns Vater natürlich/d. Red.) wohl sich
selbst; es waren Parallelbildungen."
Und warum sind sie nun verschwunden? Das Kind, das du warst, sagt, na,
ganz einfach, weil die Menschen immer ans Fenster getreten sind und
gehaucht haben, so lange, bis ein Loch in den Eisblumen war. Eine
Weile sind die Blumen noch nachgewachsen, aber irgendwann konnten sie
nicht mehr. Sozusagen weggepustet sind sie worden. Schöne Geschichte.
Die Wahrheit ist jedoch, dass früher nur eine dünne Scheibe die
Minusgrade draußen und die Plusgrade drinnen trennte. In der Nacht war
die Innenseite der Scheibe minus 1, minus 2 Grad kalt. Jedes
Wassertröpfchen gefror auf ihr, wobei sich die Tröpfchen besonders
gern an Schmutzpartikel hängten. Von dieser Basis aus wuchsen und
verzweigten sie sich. Heute aber haben wir Doppelscheiben oder gar
Isolierglas. Der Schmutz ist acht Grad warm. Da kann nichts andocken,
außer neuem Schmutz natürlich. So siehst du am Morgen nur dich, dein
in der Scheibe sich spiegelndes Gesicht, einen fahlen Eierkopp, und
wenn du noch einmal den Schmerz und die Schönheit willst, musst du
weit reisen, dahin, wo die rissigsten Datschas mit den dünnsten
Scheiben stehen. Nach Moskau! Nach Moskau! Nach Moskau!