(SZ) Manchmal ist es gut, über den Urgrund der Dinge nachzudenken. Im
  16. Jahrhundert lebte in Brügge die angesehene belgische
  Kaufmannsfamilie Van der Beurse. Sie handelte mit Wechseln, und da
  diese in Lederbeuteln, den Bursae, aufbewahrt wurden, schenkten die
  Belgier der Menschheit die Börse - eine fünfhundert Jahre andauernde
  Erfolgsgeschichte nahm ihren Lauf. Wer diesen Erfolg bezweifelt, muss
  nur den Fernseher einschalten. Immer kurz vor der Tagesschau erscheint
  ein junger Herr (oft ist er auch etwas älter oder eine Frau) und
  entschlüsselt die Welt von Dax und Stoxx. Namen und Zahlen huschen
  vorbei, auf dem Bildschirm tauchen wie Blitze zittrige Kurven auf, und
  nach fünf Minuten weiß jeder, warum er wieder keinen Aktiengewinn hat.

  Vor drei, vier Jahren war das anders: Damals gewannen alle. Große
  Schatten hatten ihre Ereignisse vorausgeworfen, es gab keine Deutschen
  mehr, nur Börsianer. An der Supermarkt-Kasse fachsimpelten sie über
  die Zuteilung von Infineon-Papieren, und selbst auf Partys redeten sie
  nicht über den Schriftsteller Dieter Bohlen, sondern über den
  Aktienguru André Kostolany. "Hast Du schon EMTV-Aktien gekauft?" -
  "Nö, aber meine Intershop gehen ab wie eine Rakete." Leider hatten
  viele der Börsenraketen bald einen Triebwerksschaden, heute lässt uns
  keiner mehr an seinen Abenteuern als Anleger teilhaben. Die Börse, ein
  Trauerspiel. Im neuen Jahr wird das anders, dank des
  Vermittlungsausschusses. Der hat ein Zeichen gesandt: Firmen können
  Verluste beim Aktienverkauf wieder von der Steuer absetzen. Wer sich
  mit Telekom-Papieren verspekuliert hat, dem hilft der Staat. Bravo,
  Gerhard, Kompliment, Angela, darauf hat Deutschland gewartet. Aber
  warum nicht mutiger? Anschreiben lassen dürfen nur Kranken- und
  Lebensversicherer, nicht der Kleinaktionär. Dabei hält er die Märkte
  in Schwung, wühlt sich durch die Anlegerblätter, kämpft mit Derivaten,
  bangt mit dem Deutsche-Bank-Chef um die Kirch-Milliarden. Dieser
  Wagemut muss sich lohnen, die Herren Rürup und Herzog sollten über die
  Nachhaltigkeit der Finanzmärkte beraten. Eine traurige Zukunft für
  unsere Kinder, wenn sie nicht früh das Spekulieren lernen.

  Natürlich darf der Staat nicht nur den Börsianern helfen, da wartet
  auf die neue Kommission viel Arbeit. Der bekannte Ökonom Kurt
  Tucholsky wusste vor über siebzig Jahren, dass die Börse nur dazu
  dient, "einer Reihe aufgeregter Herren den Spielclub zu ersetzen".
  Wohlan, die Hand der Regierung darf vor den Roulette-Tischen nicht
  zurückzucken. Faites vos jeux! Nichts geht mehr - bald. Die Kugeln
  müssen rollen, Hans Eichel stellt sich hinter die Spieler, das Land
  wird ein neues Wirtschaftswunder erleben. Auf Partys muss man dann
  auch nicht mehr über Dieter Bohlen reden.