(SZ) Manchmal kann man das sehr gut nachvollziehen: dass die
Geschichte sich nach einem langen Bart sehnt. Dass die Helden, die sie
schreiben, Tag für Tag, keine Mühsal scheuend und keine noch so große
Gefahr für Leib und Leben, dass diese Helden plötzlich sich nach
Rentner-Ruhe sehnen. Dass sie von einer irren Vision gepackt werden,
den Dienst zu schwänzen und sich vom Schnürleib der Geschichte zu
befreien, aus der vita activa sich davonzustehlen - die von Helden nun
mal verlangte Medien-Dauerpräsenz dabei cool einem Dummy überlassend,
einem Doppelgänger, einem Klon. Wie viele solcher Träume mögen
insgeheim realisiert worden sein, ohne dass wir es je gemerkt hätten?
Und wie oft hat die Geschichte einen solchen Streich rüde unterbunden,
haben ihre Schergen einen ruhebedürftigen Altpolitiker aus seinem
Kyffhäuser-Schlaf oder seinem Tikriter Erdloch gezerrt?
Das neueste Beispiel wird soeben in den britischen Massenblättern
diskutiert. Es geht dabei um Überlegungen, die der Doktor Serhiy
Horbenko aus der Ukraine, ein Spezialist in der Analyse historischer
Knochen, zum Fall der Jungfrau von Orléans anstellte, der
Nationalheiligen Frankreichs, die das Franzosenheer zum Sieg über die
Engländer führte und von denen dafür auf den Scheiterhaufen gebracht
wurde. Auf Einladung der französischen Behörden hatte er die Knochen
im Königsgrab der Valois in der Kathedrale in Cléry untersucht, ein
Auftrag, der sich als Rohrkrepierer erwies. Denn die Jungfrau, erklärt
Doktor Horbenko, war kein einfaches Mädchen vom Lande. Sie war ein
Edelfräulein, ein illegitimes Königskind, das im Waffenhandwerk
ausgebildet wurde, ein Vollweib mit entsprechendem Muskelpaket und
gezielt präpariert für den mythischen Einsatz: als couragierte Figur,
den Landsleuten Dampf unter dem Hintern zu machen. Kein sportlicher
Amateur, sondern ein Vollprofi, der seine Rolle im Spektakel
"Frankreich sucht den Superhelden" perfekt spielte. Zu perfekt, wie
sich zeigte: Mit dem wachsenden Ruhm wurde sie zur Konkurrenz der
Royals und deshalb den Engländern ausgeliefert. Nicht wirklich
freilich, sondern in Gestalt einer anderen Frau, die sowieso als Hexe
entsorgt werden musste. Die echte Johanna wurde unter Verschluss
gehalten und nach ihrem Tod zur Sippe ins Grab gelegt, wo sie nun
analysiert wurde.
Das Ganze ist fürwahr echter Dumas, wenn nicht gar tomsawyeresk, nur
die Franzosen schäumen und reagieren auf den Doktor Horbenko mit
ebensolchem Hass wie die Engländer auf good old Hussein. Und auch die
Dichter sind mal wieder die Düpierten, etwa unser Schiller. Vielleicht
hat er aber auch eine Ahnung von der Dimension des Falls gehabt: "Das
Mädchen von Orléans", schrieb er, "lässt sich in keinen so engen
Schnürleib einzwängen als die Maria Stuart."