(SZ) Als die Gesellschaft für deutsche Sprache - GfdS - nun die neuen
"Wörter des Jahres" verriet, gab ihr Vorsitzender Rudolf Hoberg der
Vermutung Raum, dass man mit den seit 1971 aufgelaufenen Jahreswörtern
schon eine kleine Kulturgeschichte der Bundesrepublik schreiben könne.
Einen Versuch wäre das allemal wert, wenn nicht sogar den Fleiß
unserer Besten, und die spannendsten Texte kämen wahrscheinlich
heraus, wenn man den Probanden nicht alle Wörter zugänglich machte,
sondern nur eine willkürliche Auswahl: Schlafmünzen, verhunzingern,
Preußenfieber oder Zündi, möglicherweise sogar
Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz. Wie
schön müsste es sein, damit die Dichter einzusperren und zu warten,
womit sie aus der Klausur zurückkommen: Handke mit einem gallbitteren
Essay, Rinke mit einem Dramolettnachtrag zu den Nibelungen, Walser mit
einem Geburtstagsgedicht?
Zum Wort des Jahres 2003 hat die GfdS das alte Europa erkoren, und
anders als bei manchen selbstquälerischen Favoriten früherer Jahre,
dem Teuro etwa oder dem Sozialabbau, hat man bei dieser Wahl den
Eindruck, als würde mit ihr eine alte Rechnung beglichen, als höbe das
Land sein lange gebeugtes Haupt. Wir erinnern uns: Rumsfeld, Donald,
US-amerikanischer Verteidigungsminister, von seinen deutschen Gegnern
gerne mit schollerndem "Rumms" ausgesprochen. Rumsfeld schlug, als der
Krieg im Irak begann, die hiesigen streitunwilligen Staaten dem "alten
Europa" zu, was umso ätzender wirkte, als auch er in good old Europe
seine Wurzeln hat: in Sudweyhe bei Bremen, von wo aus sein
Ururgroßvater Hermann anno 1866 nach Amerika ausgewandert war. Bei der
GfdS vertritt man die These, dass Rumsfelds Beschimpfung nach einiger
Zeit in ihr Gegenteil umgeschlagen sei und ein neues "positives
Selbstverständnis" der Alteuropäer bewirkt habe. Die Älteren unter uns
kennen das, weil sie die Zeit, da sie immer öfter "alter Sack" genannt
werden, frisch im Gedächtnis haben. Sie kamen nicht eher mit sich ins
Reine, als bis sie antworteten: "Gut, dann bin ich eben ein alter
Sack." Und wenn sie dann noch hinzufügten: ". . . dafür bist du aber
ein ganz gewaltiges Rindvieh", dann hatten sie ein Selbstverständnis
errungen, das vielleicht nicht unbedingt positiv ist, aber dem des
alten Europa in jeder Hinsicht ebenbürtig.
Im Übrigen hat man bei Durchsicht der bisherigen Jahreswörter das
Gefühl, dass die Zeiten, für die sie stehen, sich verdüstern. Die
erste Ernte, 1971 eingebracht, war geprägt von Wörtern wie Nostalgie,
aufmüpfig und heiße Höschen. In der neuen Sammlung dominieren Begriffe
wie Agenda 2010, Reformstreit und Maut-Desaster. Da sie uns noch eine
Weile erhalten bleiben, sollten wir uns schon mal auf kalte Füßchen
einstellen.