(SZ) Leinen los! Wir lassen uns zeigen, wie man eine Papierschwalbe
faltet und geben ihr beim Start einen Schubs. Die Schwalbe vollführt
einen Looping, prallt mit ihrem Schöpfer zusammen; wir fallen in
leichte Ohnmacht und träumen von der Kunst des Fliegens. Ars
vola-han-ndi schmettert eine reife Altstimme. Wir sind beschwingt,
Gedanken verlassen den Erdkreis, geleitet von geflügelten Worten. Dann
der Höhepunkt: Levitation, die Auffahrt ohne Hilfsmittel. Lustbetont
treiben wir durch den Äther. Unten, das kleine Pünktchen, das ist
Professor Freud, welcher uns vorwurfsvoll nachreimt: Du bist / im
Uterus / du Egoist . . rrrrrummms! macht es. Verdammt harte Landung.
Wir schreiben den 17. Dezember 1903. Und all das Leise, Gemächliche,
scheinbar Schwerelose der bisherigen Luftfahrt ist plötzlich zu Ende.
Über sein Erstgeburtsflugfeld, die Landzunge Outer Banks bei Kitty
Hawk, North Carolina, hoppelt in immer längeren Luftsprüngen der Flyer
der Gebrüder Wright, von Haus aus Fahrradfabrikanten mit einem Drang
zum Höheren. Es ist die Geburtsstunde der Aviatik. Von nun an donnert
der Mensch in den Himmel, benutzt wilde Geräte, welche um einiges
schwerer sind als Luft.
Reden wir nicht lange ums Kerosin. Hundert Jahre Motorflug - und die
maschinell-aerodynamische Erfüllung des alten Menschheitssehnens
findet uns im Zustand starker Ernüchterung. Flug-Pioniere, unter ihnen
der großherzige und großartige Charaktermensch Otto Lilienthal, waren
überzeugte Fortschritts-Utopisten. Sie sahen Fliegen als Kunst,
Fliegen als "Aufklärung", als Sieg der Naturwissenschaften über die
Religion, als Überwindung von Grenzen und Klassenschranken. Es hat
nicht lange gedauert, zehn Jahre bloß, und aus den fliegenden Kisten
der Anfänger wurden im ersten Weltkrieg veritable Luftkriegsflotten,
im zweiten aber schon Massenmittel zur Auslöschung von
Nicht-Kombattanten. Auch die nächste Eigenschaft der Fliegerei in
ihrem hundertsten Jahr trägt den gleichen Zusatz. Es ist jener
Massentourismus, welcher alles mögliche bewirken mag, die gedachte
"Völkerverständigung" auf gar keinen Fall. Und ob es zum Fortschritt
dieses Landes, Europas und der Welt beiträgt, dass beispielsweise der
Bundeskanzler in den Stand gesetzt wird, binnen weniger Tage mittels
Flugmaschinen China, Kasachstan, Bethel, Brüssel und wer weiß noch
welchen Krähwinkel persönlich aufzusuchen - ob solche
Beinahe-Ubiquität "aufklärend" wirkt? Wohl nicht.
Präs. G. W. Bush wird zum Jubiläum nach Kitty Hawk reisen, in der
Präsidentenkiste Air Force One, und wahrscheinlich abermals
Feldverpflegung austeilen. Unserseits planen wir bereits das Jubiläum
"100 Jahre Billigflieger", dabei gestehend, dass es uns langen würde,
zu Schiff nach Amerika zu gelangen.