(SZ) Das Wort des Jahres ist zwar noch nicht gewählt worden, aber wir
  haben schon mal die Stapel der Zeitungen durchforstet und anhand einer
  Strichliste bemessen, welches Wort besonders wichtig war in diesem
  Jahr: Es ist das Wort Galionsfigur. Irgendwie konnte jeder
  Galionsfigur sein: Giovanni Agnelli, schrieb die FAZ, habe die Rolle
  einer "öffentlichen Galionsfigur der Wirtschaft" ausgefüllt. Für die
  Bunte gilt das Model Gisele Bündchen als "neue Galionsfigur der
  Pelzindustrie". Der Focus befragt Daniel Küblböck, wie er sich denn so
  fühle als Galionsfigur der Schwulen-Bewegung, während die Abendzeitung
  den Herrn Ronald Barnabas Schill sogar zur Gallionsfigur seiner Partei
  erhebt, was ein eleganter Trick sein könnte, die herausragende
  Bedeutung einer solchen Figur durch Hinzufügen eines so genannten
  Ehren-L's noch zu unterstreichen. Vielleicht ist es aber einfach nur
  ein Schreibfehler. Der Begriff leitet sich schließlich ab von Galion,
  bei dem es sich um den Vorbau hölzerner Segelschiffe handelt, an
  dessen Spitze eine mit dem Namen des Schiffes in Beziehung stehende
  Bugfigur angebracht ist, geschnitzt meist in Form einer Frauengestalt.

  Frauengestalt? Den Herren Schill, Küblböck und Agnelli ist der
  Ehrentitel also zu Unrecht verliehen worden, und dem Fräulein Bündchen
  genau genommen ebenfalls, da ja die Pelzindustrie auch im übertragenen
  Sinne schwerlich als Segelschiff begriffen werden kann. Eine
  Galionsfigur, die den Namen eher verdient, hing dagegen - in Gestalt
  eines Albatros - bis vor kurzem am deutschesten aller deutschen
  Schiffe, dem Marineschulschiff Gorch Fock, und wenn man jetzt hört,
  dass diese Figur soeben bei einem Sturm in der Biskaya abgerissen ist,
  kann man sich durchaus überlegen, ob das nicht ein schlechtes Zeichen
  sein könnte für das ganze Land, das sich ja in schwerer See befindet
  und jeden Tag aufs Neue gegen die komplette Überspülung kämpfen muss.
  Wenn man dann noch hört, dass die Gorch Fock ihre Galionsfigur vor
  einem Jahr, fast auf den Tag genau, schon einmal verloren hat, bei
  einem Sturm im Ärmelkanal - ist das dann nicht ein Beleg für die
  Beständigkeit der Krise im Herzen der Nation? Ein deutsches Déjà-vu.
  Immer, wenn die nach Lebkuchen und Glühwein trügerisch duftende
  Weihnachtszeit kommt, immer dann erscheint eine Windsbraut und
  schleudert den Albatros ins Wasser.

  Sollte also jemand auf den scheinbar nett gemeinten Gedanken kommen,
  uns zur Galionsfigur von etwas zu erklären, so würden wir dankend
  ablehnen. Galionsfigur sein, oder auch Gallionsfigur, das ist eine
  vergiftete Ehre. Der Albatros ist untergegangen, Schill ist
  untergegangen, von Küblböck sind auch nur noch die Spitzen zu sehen,
  Agnelli ist gestorben. Und Gisele Bündchen hat ein wenig zugenommen in
  diesem Jahr.