(SZ) Die muskelstrotzende Herakles-Skulptur des griechischen
Bildhauers Lysippos, als Riesenkopie auf der Kasseler Wilhelmshöhe
ausgestellt, lehnt auf einer Keule. Gegen drohendes Wundsein und
Schrunden hat der Klops sich ein Lederläppchen zwischen Knüttel und
Achsel geklemmt. Hätte er die baumdicke Stütze nicht, er würde aus
seinem gar zu lässigen Kontrapost unweigerlich nach links kippen.
Ähnlich verhält es sich mit der afrikanischen Gänseblume oder Gerbera
jamesonii, die sich offiziell als "Weichstieler" klassifizieren lässt.
In keiner Vase kann ihr schwächlicher Stiel den viel zu schweren
Blütenkopf aufrecht halten - es sei denn, sie wird an Hartstieler wie
die Rose gebunden oder mit Steckdraht in die Vertikale gezwirbelt. Bei
Skulptur wie Blume handelt es sich fraglos um überfeinerte Endmoränen
einer Entwicklung, an deren Anfang in der Kunst kerzengerade,
archaisch lächelnde Kouros-Statuen standen, in der Pflanzenwelt aber
muntere Gerbera-Gewächse, die sich mühelos ohne Drahthilfe aufrecht zu
halten vermochten.
Dekadentes, zur Dekadenz Gezüchtetes, bedarf also der Krücke. Wie aber
ist in diesem Zusammenhang jener Vorfall erklärlich, der sich jüngst
in der ostrussischen Taiga zutrug? Da brach in der Nähe eines
Zeltlagers ein Tigerweibchen durchs Gesträuch. Es attackierte die
Camper jedoch nicht. Vielmehr kroch es an sie heran, legte sich hin
und wich nicht mehr von der Stelle, bis ein Veterinär verständigt war.
Dessen "erste Untersuchungen", so die russische Abteilung des "World
Wildlife Fund", hätten "keinen Hinweis auf eine Verletzung" erbracht.
"Möglicherweise" habe das Tier "innere Blutungen oder die Tollwut".
Möglicherweise, ist man geneigt dagegenzuhalten, ist das Ganze aber
auch eine riesige Show. Möglicherweise hat sich der Tiger einfach nur
dem Rehpinscher und dem Mastschwein hinzugesellt, als tierische
Entsprechung der Gerbera und der Lysipp-Statue gewissermaßen: sämtlich
Erscheinungen, die ohne Krücke, in letzterem Falle die Krücke
menschlicher Zuwendung, existenzunfähig sind. Doch während Hund und
Schwein Menschenwerk sind, kam die Tigerin ja aus der Wildnis. Bei
ihrem Hilfe heischenden Verhalten handelt es sich also offenbar um
eine unabhängig vom Menschen der weiten russischen Steppe selbst
entsprungene Dekadenzerscheinung.
Damit widerlegt das Tier nicht nur gleichsam im Vorbeigehen
Jean-Jacques Rousseaus These, nach der nur die Zivilisation, nie aber
die Natur Dekadenz hervorbringen könne. Zugleich beweist es, dass
Dekadenz und Intelligenz Hand in Hand gehen: Erst hat die Katze eine
Krankheit gemimt und sich mit Blaulicht in die Veterinärklinik nach
Wladiwostok chauffieren lassen. Jetzt lässt sie sich dort ein bisschen
päppeln und betütteln. Später wird sie den Arzt fressen.