(SZ) Als Georges Clemenceau zum ersten Mal Minister wurde, führte ihn
sein Sekretär durch die Pariser Amtsräume. Alle Büros waren leer. Nur
in einem Saal saß einsam ein Kanzlist, den Kopf auf dem Schreibtisch,
und schlief selig. Wütend wollte sich der Sekretär auf den Frevler
stürzen. "Lassen Sie ihn", winkte Clemenceau ab. "Sonst geht er auch
noch weg." Für das Problem, wie man mit übermäßiger Arbeitsbürde
fertig wird, fanden Beamte immer schon intelligente Lösungen, nicht
nur an der Seine. Dass ein Jahrhundert später am ehrwürdigen Quai
d'Orsay und in den französischen Auslandsvertretungen erstmals die
Diplomaten streiken, ist indessen ein schockierendes Zeichen einer
Zeit, in der alles organisiert werden muss. Aus einem Metier mit
feudalen Allüren ist ein Beruf mit arbeitskämpferischen Ansprüchen
geworden: Diplomatengewerkschaften mit sechs politischen Färbungen, so
etwas gibt es im republikanischen Frankreich.
Freilich hatten die Haushaltspolitiker den Erben des großen Talleyrand
in letzter Zeit zu viel zugemutet. Der hatte es sich noch leisten
können, seine Leute zu mahnen "bloß keinen Eifer", während er selber
am welthistorischen Kuhhandel nach Kräften verdiente. "Keine Kopeke in
der Kasse", klagt jetzt ein Gewerkschaftler, "die Hälfte der Lifte
geht nicht, weil kein Geld für Reparatur da ist." Im letzten Monat
hatte der Papierlieferant des Außenministeriums wegen offener
Rechnungen die Lieferung eingestellt. Europaministerin Noelle Lenoir
musste ihre Notizblöcke selber kaufen. Etwa 150 ernannte Diplomaten
saßen auf gepackten Koffern und konnten nicht reisen, weil für sie
keine Flugbilletts beschafft werden konnten. Allein den Botschaftern
werden im kommenden Jahr 20 Millionen Euro Repräsentationsspesen
gestrichen. Da sind steuerfreie Zigarren und strafloses Falschparken
kein rechter Trost mehr.
Mit 150 Botschaften, 98 Konsulaten sowie 500 Kulturvertretungen und
Auslandsschulen leistet sich Paris den größten diplomatischen Apparat
der Welt nach den USA. Wie der Präsident der Republik und seine
Regierung ihre großen Ambitionen für Frankreich auf der
internationalen Bühne mit dem Rückgang der Mittel für das Ministerium
vereinbaren wollen, verstehen die Streikenden nicht. Ob es aber im
E-Mail-Zeitalter wirklich nötig ist, dass EU-Staaten in sämtlichen
Hauptstädten der Gemeinschaft Missionen unterhalten wie weiland in der
Postkutschen-Ära, das wird nicht gefragt. Niemand sägt gern an dem
Ast, auf dem er sitzt. Außerdem gäbe es da noch andere Möglichkeiten.
Wenn die Präsidentengattin Bernadette Chirac mit ihrem Gefolge den
Vatikan besucht, dann geht die saftige Rechnung des Hotels Hassler
nicht an den Elysée-Palast, sondern an das Außenministerium.