(SZ) Kürzlich in der Maß- und Konfektionsschneiderei Hans Eichel vorm.
Theo Waigel. Meister Eichel sitzt an der Nähmaschine und hat schon
ganz wunde Fingerspitzen, weil er, um Stoff zu sparen beziehungsweise
um ihn so gut wie möglich zu nutzen, die Säume immer noch "ein Stück
weit" enger nähen will. "Verflixt und zugenäht", ruft er ein ums
andere Mal und muss dann selbst über sein Wortspiel lachen, weil eben
überhaupt nichts zugenäht ist: Überall klaffen Risse, die Etats der
einzelnen Ressorts passen an keiner Stelle zusammen, und wie die
Neuverschuldung in das Flickwerk integriert werden soll, weiß kein
Mensch. Das war vor einigen Wochen, doch dann trat Eichel vor die Tür
und zeigte sein Werk vor. Er tat das mit einer Miene, als wär's nichts
Geringeres als das Turiner Grabtuch, und als die Gläubigen Zweifel an
der Solidität äußerten, krähte er: "Alles auf Kante genäht!"
Festigkeitsproben gestattete er trotzdem nicht.
Die politischen Parteien machen den Wählern seit längerem weis, dass
sie, zu deren Nutzen natürlich, nur noch Leute "mit Ecken und Kanten"
ins Gefecht schicken. Wahrscheinlich glaubt Eichel, er genüge diesem
Profil, wenn er nur fest auf Kante näht, wo man doch schon im
Grundkurs Nähen jeder Volkshochschule lernt, dass man die Nahtzugaben
nicht zu knapp halten sollte, widrigenfalls die Chose schnell
ausfranst und in Fetzen geht. In Brüssel, wo man sich auf die
Reißfestigkeit - genauer gesagt die Reißwilligkeit - von Haushalten
besser versteht als sonst wo auf der Welt, hätte man Eichel wegen
seiner Nähkünste beinahe von der Bettkante gewiesen, und in diesem
Fall hätte er sich, wie man neuerdings sagt, die Kante geben können.
Bitte nicht mit "sich die Kugel geben" verwechseln: Man säuft sich nur
zu.
Dieser Tage zeigte ein anderer Politiker seine Ecken und Kanten:
Martin Hohmann mit einer Rede, die auf ihre Weise auch, und zwar
haarscharf, auf Kante genäht war. Mittlerweile gibt es einen großen
Freundeskreis, der dem geschassten CDU-Mann eine zweite Chance
einräumen will und dafür von Fraktionsvize Wolfgang Bosbach "die klare
Kante" gezeigt bekommt. Was damit gemeint ist, weiß man nicht: Ist es
der Wink mit einem kantholzförmigen Zaunpfahl, oder werden diese Leute
an die Kante geführt, neben der es in den Abgrund geht. Letzteres wäre
insofern ganz spannend, als sie da auf Florian Gerster von der
Bundesanstalt für Arbeit stoßen könnten, der eingeweihten Kreisen
zufolge "an der Kante" steht. Er ist dort hingeraten, weil er einen
Beratervertrag dermaßen auf Kante nähte, dass man ihn möglicherweise
völlig wird auftrennen müssen. Er ist übrigens nicht allein. Wolfgang
Clement ist bei ihm, um ihm den Rücken zu stärken, und da Gerhard
Schröder hinter Clement steht, steht er auch hinter ihm. Allerhand los
auf hoher Kante!